Wiegersen: "Auf einmal war ich schon 100 Jahre alt"

Bei ihr könnte sich manch 50-jähriger Mensch noch eine Scheibe abschneiden: Ruth Gaulke feiert bald ihren 101. Geburtstag
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Ruth Gaulke feiert am 30. Januar ihren 101. Geburtstag / Rückblick auf ein bewegtes Leben

ab. Wiegersen. Wer Ruth Gaulke kennenlernt, kann kaum glauben, dass sie schon 100 Jahre alt ist: Gut gelaunt plaudert sie über die vergangenen zehn Jahrzehnte, erzählt von ihrer Kindheit, von Ausbildung und Ehe, von ihrem Umzug nach Wiegersen, immer mit einem Augenzwinkern: Die rüstige Dame hat viel Humor. "Ich bin eben eine Rheinländer Frohnatur", sagt sie. Am Mittwoch, 30. Januar, wird Ruth Gaulke 101 Jahre alt. Mit dem WOCHENBLATT blickte sie zurück auf ihr bewegtes Leben.

Auf ihr Alter angesprochen, sagt Ruth Gaulke: "Das läuft so nebenbei: Auf einmal war ich 100 Jahre alt." Oft fallen bei ihr die Worte: "Das war eine schöne Zeit." Dabei hatte es die Rheinländerin nicht immer leicht: Geboren wurde sie 1918 in Niederkrüchten nahe der holländischen Grenze als das neunte von zehn Kindern. "Mein Vater, ein Molkereidirektor, hatte schon acht Söhne. Ich war seine erste Tochter, da war die Freude groß."
Doch als Ruth Gaulke drei Jahre alt war, starb ihr Vater. Gemeinsam mit zwei Brüdern und ihrer kleinen Schwester kam sie zu katholischen Schwestern in ein Kinderheim. Die anderen Geschwister wurden auf Onkel und Tanten verteilt. "Unsere Familie wurde komplett auseinander gerissen, aber es ging nicht anders." Die Mutter hatte keinen Beruf gelernt, alleine mit acht Kindern - zwei Brüder waren verstorben - hätte sie es nicht geschafft. Ihre Mutter habe aber immer dafür gesorgt, dass sich die Familie treffen konnte und sich so nicht aus den Augen verlor.

Bei den katholischen Schwestern habe sie jede Menge gelernt, sagt Ruth Gaulke. Mit 17 Jahren zog sie aus und ließ sich zur Kinderschwester ausbilden. Bei zwei Familien im Saargebiet habe sie die Kinder betreut, das sei "eine schöne Zeit" gewesen - bis der "Franzose" kam. Der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen und Ruth Gaulke musste fliehen.
"Ich habe keine Entscheidungen getroffen, ich bin irgendwie geführt worden", beschreibt sie die nachfolgende Zeit. Sie wurde in den Krieg eingezogen und als Funkerin ausgebildet. Eine gute Funkerin sei sie gewesen, sagt sie, "es hat mir sehr viel Spaß gemacht". Sie arbeitete im Luftgau im hessischen Wiesbaden, wurde dann ins französische Limoges geschickt. Der Krieg ging zu Ende. Ruth Gaulke verschlug es nach Halle an der Saale, dann Richtung Wien, anschließend nach Tirol, "da war ich 27 Jahre alt."

Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland stand sie vor dem Nichts, erinnert sich die 100-Jährige, zu fünft hätten sie in einem Zimmer in Iserlohn gelebt. "Eine schlimme Zeit war das: Es gab nichts zu essen und für das bisschen, was es gab, mussten wir ewig anstehen."

Als sie einen Job in Borkum annahm, lernte sie dort am Strand ihren Mann kennen. Er war gerade aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Sie verlobten sich, 1950 heirateten sie. Zwei Jahre später kam ihr Sohn auf die Welt, 1955 ihre Tochter. Da wohnten sie bereits in Hamburg. 

Im Jahr 1972 erzählten Freunde von einem herrlichen Baugrundstück in Wiegersen. "Da ist es wie im Harz, nur ohne Berge. Und da es in Hamburg kein Grundstück gab, wo mein Mann und ich hätten bauen können, haben wir uns dort eines gekauft."
Ihr Mann, von Beruf Schiffsmaschinenbauer, arbeitete weiter in Hamburg, sie war für die Kinder da. "Ich habe mich hier sehr schnell wohl gefühlt. In dieser Straße gibt es eine tolle Nachbarschaft."

62 Jahre lang war Ruth mit ihrem Mann verheiratet, hatte die Goldene und die Diamantene Hochzeit mit ihm gefeiert. Inzwischen ist er verstorben. Mit ihm sei sie gerne gereist, erzählt sie. Und auch mit einer Freundin, mit der sie im Alter von 100 Jahren auf der AIDA eine große Tour nach Frankreich gemacht hatte. 

Der rüstigen Dame wird selten etwas zu viel: Sie hat sechs Enkelkinder und insgesamt sieben Urenkel, der achte ist unterwegs. "Ich freue mich immer, wenn sie hier sind. Die bringen alles durcheinander und danach räume ich auf - da habe ich was zu tun", sagt sie lachend.
Was sie von früher vermisst: "Wir haben immer sehr viel gebacken und selbst hergestellt, zum Beispiel einen Stubenwagen aus Apfelsinenkisten. Heute wird immer alles gekauft." Womit sie nichts anfangen kann: mit allem Digitalem - oder mit Technik. "Das hat früher immer alles mein Mann gemacht."

Jetzt sieht Ruth Gaulke ihrem 101. Geburtstag entgegen - und dem Karneval. "Tagsüber läuft bei mir nie der Fernseher, außer zur Karnevalszeit", gesteht die gebürtige Rheinländerin. "Da habe ich etwas, worüber ich herzhaft lachen kann."

Redakteur:

Alexandra Bisping

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