In 20 Minuten sitzt die Tracht
Mit Pointen durch die Geschichte / In Stade boomen die Stadtführungen / Zehn Reisebusse täglich
tp. Stade. "Glauben Sie wirklich, dass ich sieben Unterröcke trage?": Der Stadtrundgang mit Gästeführerin Rosi Oltmanns (67) beginnt gleich mit einem Lacher. Heute führt die ebenso resolute wie redegewandte Rentnerin eine 20-Köpfige Besuchergruppe aus Karlsruhe durch die Stader Altstadt. Bereits vor dem Start um 9.30 Uhr hatte die Stadtführerin ein strammes Programm hinter sich: Das Anlegen der Altländer Festtagstracht. Wie Rosi Oltmanns geht es den anderen rund 50 Gästeführern, die seit dem Beginn der Tourismus-Saison Anfang Mai voll eingespannt sind.
Bis zu zehn Busse mit Urlaubern, überwiegend Seniorenreisegruppen, steuern derzeit täglich die Stadt Stade an. Ähnliches Bild in der Nachbarstadt Buxtehude, mit der die Stade Tourismus-GmbH kooperiert und ortskundiges Personal austauscht. Zu Stoßzeiten pendeln die Gästeführer zwischen Schwinge und Este hin und her.
Seit acht Jahren ist Rosi Oltmanns, Anwaltsgehilfin im Ruhestand, Gästeführerin. Beim Anlegen der Tracht der verheirateten Frau um 1860 sitzt inzwischen jeder Handgriff: weiße Strümpfe, Spitzen-Unterrock, roter Trachtenrock mit Zier-Borte, Bluse, Jacke, Halstuch, Altländer Filigranschmuck und schwarze Haube mit Goldrand. Bis alles perfekt sitzt, braucht Rosi Oltmanns 20 Minuten, in ihrer Anfangszeit war es noch eine halbe Stunde.
Um - entsprechend der damaligen Schönheitsideals auf dem Lande - weibliche Rundungen zu betonen, trugen die Bauersfrauen früher sieben Lagen Unterröcke, erklärt Oltmanns den staunenden Karlsruhern, Mitglieder eines Stenographen-Vereins der Generation 70 plus, vor den markanten Stader "Flutkanonen" an der Hansestraße. Als Rosi Oltmanns ein besonderes Unterwäsche aus dem Korb hervorholt, ist die nächste Pointe sicher: Die "Freischieter-Unterhose" mit Öffnung am Gesäß, dank derer sich die Frauen zeitsparend während der Feldarbeit erleichtern konnten. "So" habe man seinerzeit im Alten Land die Obstplantagen gewässert und gedüngt. Unter Gelächter und Beifall starten die unternehmungslustigen Senioren ihre Tour durch die Altstadt, wo sich Sehenswürdigkeiten wie Perlen an einer Schnur reihen: Stadthafen mit historischen Kränen, Fischmarkt mit Schwedenspeicher, Pferdemarkt mit Zeughaus und die enge Brandgasse Lämmertwiete, in der in alter Zeit schon mancher fetter Hammel stecken geblieben ist.
Auf der Büttel-Brücke hören die die Gäste eine Anekdote aus dem rauen Mittelalter: Dort, so Oltmanns habe der Büttel, damaliger Polizeigehilfe und Folterknecht, einen Bäcker, der seine Kunden betrug, eine empfindliche Strafe verabreicht: Er füllte ihm Gülle in den Mund und tauchte ihn kopfüber in die Schwinge, die früher eine stinkende Kloake war. Seitdem soll es in Stade keine Beschwerden mehr über zu kleine Brötchen gegeben haben.
Die Gästeführung endet mit tosendem Applaus: Den Karlsruher Ruheständlern gefällt es hier so gut, dass sie für das kommende Jahr ihre zehnte Reise nach Stade gebucht haben. "Keine Seltenheit", sagt Bianka Stahl, Büroleiterin bei der Stade Tourismmus-GmBH, mit stolzer Stimme: "Es gibt viele Wiederholungstäter."
Redakteur:Thorsten Penz aus Stade |
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