Interview mit Impfzentren-Leiter zu Versäumnissen des Bundes bei Impfausstattung
Dr. med. Jörn Jepsen kämpft um jede Corona-Impfdosis

"Wir könnten in Buchholz und Winsen etwa 4.000 Menschen pro Tag impfen": Dr. med. Jörn Jepsen vor dem von ihm geleiteten Impfzentrum in Buchholz | Foto: ce
  • "Wir könnten in Buchholz und Winsen etwa 4.000 Menschen pro Tag impfen": Dr. med. Jörn Jepsen vor dem von ihm geleiteten Impfzentrum in Buchholz
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ce. Buchholz/Winsen. Bis vor wenigen Tagen war Dr. med. Jörn Jepsen (67) vor allem vielen langjährigen Patienten aus seiner Zeit als Allgemeinmediziner im Landkreis Harburg und in Fachkreisen bekannt. Seit der jetzige Leiter der Impfzentren in Buchholz und Winsen im "Spiegel" die Impfpolitik des Bundesregierung anprangerte ("Bundesweit gehen Millionen Dosen verloren"), erregt er jedoch in ganz Deutschland Aufsehen. WOCHENBLATT-Redakteur Christoph Ehlermann hakte im "Interview der Woche" bei Jepsen nach, welche Versäumnisse er in Berlin sieht und wie Abhilfe geschaffen werden kann.
WOCHENBLATT: Herr Dr. Jepsen, Sie haben es im "Spiegel" als "Skandal" bezeichnet, dass auch den Impfzentren im Kreis Harburg noch immer nicht genügend Spezialspritzen zur Verfügung stehen, um aus jeder Ampulle Biontech/Pfizer mehr Impfstoff gewinnen zu können. Wo hat das Bundesgesundheitsministerium hier versagt?
Jörn Jepsen: Ob das Gesundheitsministerium versagt hat, kann ich nicht beurteilen. Es hängt ja auch von der industriellen Produktion dieser "Low-Dead-Space-Spritzen“ ab. Ich finde es nur sehr bedauerlich, dass in einem Zeitraum von sechs Monaten diese Spritzen immer noch nicht den Impfzentren zur Verfügung gestellt werden können. Hätten wir diese, könnten wir mit 800 Impfdosen insgesamt sogar 933 Patienten versorgen. Das ist doch angesichts des sehr knappen Impfstoffes eine beachtliche Zahl.
WOCHENBLATT: Wie ist diese "Mehr-Versorgung" technisch möglich?
Jepsen: Das entsteht dadurch, dass man aus einer Phiole statt sechs dann sicher sieben Dosen herausziehen kann.
WOCHENBLATT: Sie haben auf eigene Faust versucht, die entsprechenden Spritzen für den Kreis Harburg zu beschaffen, sie waren jedoch ausverkauft. Hätte der Ausverkauf verhindert werden können?
Jepsen: Der Landkreis Harburg - federführend Annerose Tiedt vom Fachbereich Ordnung und Konstantin Keuneke von der Rettungsdienstabteilung - unterstützt uns sehr im Bemühen um diese Spritzen und hat alles ihm Mögliche getan, um diese zu bestellen. Leider auch ohne Erfolg. Jetzt haben wir eine neue Option erhalten, ich hoffe, dass wir nun weiterkommen.
WOCHENBLATT: Die Impfzentren im Landkreis mussten nach Ihren Angaben mangels Impfstoff tageweise schließen. Wie stark gerät der Kreis dadurch bei den Impfungen in Verzug?
Jepsen: Der Landkreis Harburg ist aus meiner Sicht im Vergleich zu anderen Kreisen wirklich gut aufgestellt. Durch die enge und konstruktive Zusammenarbeit mit dem Landkreis Harburg sowie Jan Bauer und Michael Thomas vom DRK und Alexander Janssen und Nadine Fischer von der Johanniter-Unfall-Hilfe haben wir es möglich gemacht, die Prioritätengruppen (Altenheime, Behinderteneinrichtungen, Asylunterkünfte usw.) deutlich schneller zu impfen als in anderen Landkreisen. Auch beim Impfen bestimmter Berufsgruppen wie Lehrer, Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei und medizinischem Personal lagen wir vorne.
WOCHENBLATT: Wie viele Erst- und Zweitimpfungen finden täglich in den Zentren in Winsen und Buchholz statt?
Jepsen: Dies ist schwer zu sagen, weil es natürlich immer von den Impfdosenlieferungen des Landes abhängt. Im Durchschnitt impfen wir in Buchholz und Winsen zusammen täglich etwa 1.200 Dosen. Derzeit wird in Niedersachsen wie auch in anderen Bundesländern für drei Wochen kein Impfstoff für Erstimpfungen geliefert, das reduziert die Zahlen natürlich deutlich.
Der Landkreis Harburg hat die Impfzentren generell für eine deutlich höhere Auslastung vorbereitet. So wäre es mit einer Ausdehnung der Öffnungszeiten möglich, 4.000 Impfungen pro Tag zusammen in Buchholz und Winsen durchzuführen. Leider können wir jedoch der Bevölkerung dieses Angebot mangels Impfstoff nicht machen.
WOCHENBLATT: Sie beklagen, dass innerhalb von fünf Monaten nur 16 Prozent der deutschen Bevölkerung geimpft wurden.
Jepsen: Wir haben sehr viel erreicht, aber als ärztliche Leitung der beiden Impfzentren darf ich mit diesen inzwischen rund 20 Prozent Zweifachgeimpften nach sechs Monaten nicht zufrieden sein. Die Aussage, bis zum September hätten wir 80 Prozent der Bevölkerung zweimal geimpft, halte ich für sehr optimistisch.
WOCHENBLATT: Was glauben Sie, wann Deutschland bzw. der Kreis durchgeimpft sind?
Jepsen: Bei den anhaltend mageren Impfstofflieferungen – auch bei den niedergelassenen Kollegen und den Betriebsärzten – brauchen wir sicherlich noch bis zum Ende des Jahres. Deshalb habe ich wenig Verständnis dafür, wenn der Bund jetzt schon eine Schließung der Impfzentren zum Ende September ankündigt. Erfreulicherweise hat das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Hannover eine Tendenz erkennen lassen, vor Erreichen einer sogenannten "Herdenimmunität“ eher keine Schließung durchzuführen.
WOCHENBLATT: Hat sich die Bundesregierung nach Ihrer Kritik schon bei Ihnen gemeldet?
Jepsen: Nein, natürlich nicht, das erwarte ich auch überhaupt nicht. Ich denke, in Berlin hat man genug Probleme, und der Wahlkampf tut sein Weiteres. Es sind sicherlich dort viele schwere Entscheidungen zu treffen, die auch gelegentlich eine ganz andere Richtung nehmen, als man vorher beabsichtigt hatte. Aber wir leben zum Glück in einem demokratischen Land, und da muss es auch gestattet sein, Missstände zu benennen und Kritik ehrlich auszusprechen.
Ich persönlich würde mir wünschen, dass beim Bund nicht Beschlüsse getroffen werden, die dann später an der Basis gar nicht so schnell zu realisieren sind. Erfreulich fand ich retrospektiv, dass zumindest für Teile der Politik die Belange der Impfzentren nicht belanglos waren. Sowohl Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann als auch die Bundestagsabgeordnete Svenja Stadler kamen ins Impfzentrum, um sich unsere Sorgen und Probleme vor Ort anzuhören.
WOCHENBLATT: Wurden Sie selbst schon geimpft?
Jepsen: Alle Mitarbeiter der Impfzentren wurden geimpft. Dieses halte ich auch für geboten, denn die Infektionsgefahr bei diesem großen Menschendurchlauf ist ja sehr hoch. Wir haben die Verantwortung für das gesundheitliche Wohl unser vielen Mitarbeiter, die mit großem Engagement auch an Wochenenden und Feiertagen hier tätig sind. Ich wurde in diesem Rahmen auch geimpft, habe aber bis auf ein bisschen Müdigkeit und leichten Schmerz an der Einstichstelle keine Nebenwirkung gehabt.
WOCHENBLATT: Wie schalten Sie nach der Arbeit in den Impfzentren ab?
Jepsen: Das geht leider schlecht. Ich erhalte derart viele E-Mails, Faxe und Anrufe pro Tag, die ich meistens erst abends oder am Wochenende beantworten kann. Und dann sind die Probleme ja auch nicht aus dem Kopf. Da erfordert es doch mal ein "mahnendes Wort“ meiner Ehefrau, nun doch mal abzuschalten.
WOCHENBLATT: Manche Testzentren funktionieren ja nach dem Drive-in-System: Abstriche werden im Vorbeifahren erledigt. Wäre so eine Zeit sparende Variante auch bei den Impfzentren denkbar?
Jepsen: Denkbar wäre das schon, in den USA werden Drive-in-Schalter ja betrieben mit Impfungen. Die Problematik ist dabei aber die sehr aufwendige Bürokratie. Viele Patienten füllen die notwendigen Bögen erst im Impfzentrum aus, und nach der Impfung muss auch eine Beobachtungsdauer von 15 Minuten erfolgen. Im Auto könnte man das schlecht überwachen. Diese Schalter wären aber nur sinnvoll, wenn Massen an Impfstoff zur Verfügung ständen. Da das nicht der Fall ist, wurden solche Überlegungen bisher auch nicht herangezogen.
WOCHENBLATT: Herr Dr. Jepsen, vielen Dank für das Gespräch.

Redakteur:

Christoph Ehlermann aus Salzhausen

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