Krankenkassen kündigen Ende der Klagewelle gegen Krankenhäuser an, doch der Ärger bleibt
"Das Vertrauen ist nachhaltig beschädigt"
os. Winsen/Buxtehude. In den vergangenen Monaten war die Atmosphäre zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern in Niedersachsen vergiftet. Grund war eine Klagewelle, die die Krankenkassen vor den Sozial- und Landessozialgerichten anstrengten. Die Krankenkassen weigerten sich, die sogenannte neurologische Komplexpauschale zu bezahlen, die die Bezahlung der Behandlung bei Schlaganfällen regelt. Im Kern ging es darum, ab wann die Behandlung bezahlt werden muss. Anfang dieser Woche hat die AOK Niedersachsen, die als Verhandlungsführer aller Krankenkassen agiert, zwar angekündigt, die meisten Klagen zurückzunehmen. Der Ärger bei den Verantwortlichen in den Krankenhäusern bleibt aber.
"Die Krankenkassen spielen in unverantwortlicher Weise mit der Gesundheit der Menschen", kritisiert Siegfried Ristau, Geschäftsführer der Elbe Kliniken in Buxtehude und Stade. Er habe sich extrem ungerecht behandelt gefühlt, weil erbrachte Leistungen nicht bezahlt wurden. Am schlimmsten sei gewesen, dass die Klagen in den Jahresabschlüssen berücksichtigt werden mussten: "Die Krankenhäuser mussten Rückstellungen in Millionenhöhe bilden. Das hat uns sehr besorgt." Bislang habe sich die AOK noch nicht bei den Elbe Kliniken gemeldet. "Ich gehe davon aus, dass das kurzfristig geschieht", so Ristau.
Unterstützung erhält Ristau von Dr. Hans-Heinrich Aldag, Geschäftsführer der Waldklinik Jesteburg, Vorsitzender der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft und CDU-Fraktionsvorsitzender im Kreistag des Landkreises Harburg: "Dieses Vorgehen hat das Vertrauensverhältnis zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen nachhaltig beschädigt."
Die schlechte Zahlungsmoral der Krankenkassen gefährdet nicht nur Krankenhäuser, sondern auch Pflegedienste. Der Inhaber eines Pflegedienstes im Landkreis Harburg, der ungenannt bleiben möchte, berichtet, dass die Krankenkassen allein für die beiden ersten Monate dieses Jahres Rückstände in Höhe von rund 150.000 Euro bei ihm hätten. "Zum Monatsende bekomme ich immer Herzrasen, weil mir wegen der Zahlung der Gehälter und der Abführung der Sozialversicherungsbeiträge die Zahlungsunfähigkeit droht", erklärt der Insider. Er ist jetzt dazu übergegangen, ein Inkassobüro mit dem Eintreiben der Schulden zu beauftragen.
„Kassen schießen übers Ziel hinaus“
WOCHENBLATT-Interview mit Dr. Bernd Althusmann, Dr. Hans-Heinrich Aldag und Norbert Böttcher zur Lage der Krankenhäuser in Niedersachsen
(os/nw). Mit der Bitte um Unterstützung wandten sich jetzt Dr. Hans-Heinrich Aldag und Norbert Böttcher an den stellvertretenden Ministerpräsidenten und niedersächsischen Wirtschaftsminister, Dr. Bernd Althusmann. Dr. Aldag, Vorsitzender der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft und Chef der Waldklinik Jesteburg, sowie Norbert Böttcher, Geschäftsführer der Krankenhäuser Buchholz und Winsen, sehen die „flächendeckende medizinische Versorgung in Niedersachsen“ in Gefahr. Was genau die beiden Klinikchefs beunruhigt, was sie sich vom Wirtschaftsminister erhoffen und wie Dr. Althusmann die Krankenhäuser in Niedersachsen unterstützen will, erfuhr das WOCHENBLATT im Wahlkreisbüro von Dr. Althusmann in Seevetal.
WOCHENBLATT: Herr Dr. Althusmann, welche Bedeutung hat für Sie als Wirtschaftsminister die Krankenhausversorgung in Ihrem Landkreis und in Niedersachsen?
Dr. Bernd Althusmann: Zunächst einmal: Die 172 Krankenhäuser in Niedersachsen leisten großartige Arbeit! Wenn ich mit Menschen spreche, höre ich immer wieder, wie wichtig ihnen eine gute Gesundheitsversorgung ist, und hier insbesondere eine gute Krankenhausversorgung vor Ort. Die Landesregierung hat daher das klare Ziel, günstige Bedingungen für die Arbeit der Krankenhäuser zu schaffen. Krankenhäuser sind insbesondere in der Fläche ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. So sind allein in den Krankenhäusern des Landkreises Harburg über 2.500 Menschen beschäftigt.
WOCHENBLATT: Sie, Herr Dr. Aldag und Herr Böttcher, sehen die Krankenhausversorgung in Niedersachsen in Gefahr. Warum?
Dr. Hans-Heinrich Aldag: Erst einmal etwas Grundsätzliches: Die Krankenhäuser in Niedersachsen erhalten im Vergleich zu anderen Bundesländern bei vergleichbaren Leistungen seit Jahren eine der niedrigsten Vergütungen. Zusätzlich sind die Investitionsmittel des Landes pro Krankenhausbett trotz partieller Verbesserungen in letzter Zeit immer noch vergleichsweise gering. Das ist ein deutlicher Wettbewerbsnachteil der niedersächsischen Krankenhäuser und bringt viele Kliniken in eine finanzielle Schieflage. Schon jetzt haben zwei Drittel der Häuser keinen nachhaltigen positiven Jahresabschluss. Das ist existenzbedrohend.
WOCHENBLATT: Gehören die Krankenhäuser Buchholz und Winsen zu den bedrohten Kliniken?
Norbert Böttcher: Mit großen Anstrengungen ist es uns in den vergangenen Jahren gelungen, gerade noch schwarze Zahlen zu schreiben. In diesem Zusammenhang bedanken wir uns bei der Landesregierung für den aktuellen Investitionszuschuss für unsere Neubauprojekte in Buchholz und Winsen in Höhe von zunächst 14 Millionen Euro aus dem Krankenhausinvestitionsprogramm. Doch diese Investitionszuschüsse sind einmalige Zahlungen und verbessern nicht die Jahresergebnisse.
WOCHENBLATT: Wo hakt es denn?
Böttcher: Unser Problem liegt in der mangelnden Bereitschaft der Krankenkassen, mit den Kliniken auskömmliche Budgets zu vereinbaren und unsere erbrachten Leistungen auch verlässlich zu vergüten. In ihrer Verweigerungshaltung schießen die Kassen deutlich über das Ziel hinaus.
WOCHENBLATT: Haben Sie ein aktuelles Beispiel?
Böttcher: Im Sommer vergangenen Jahres ist durch das Bundessozialgericht ein Urteil ergangen, wonach nur noch diejenigen Krankenhäuser eine Schlaganfallbehandlung abrechnen dürfen, die in der Lage sind, ihre Patienten innerhalb von 30 Minuten z.B. auch neurochirurgisch zu versorgen. Eine solche Behandlung ist nur in sehr wenigen Fällen erforderlich. Bisher war es uns möglich, unsere Patienten innerhalb dieser 30 Minuten in entsprechende Fachabteilungen spezialisierter Kliniken zu transportieren.
WOCHENBLATT: Und nun?
Böttcher: Jetzt läuft die Uhr nach der Interpretation der Krankenkassen schon ab der Entscheidung des Arztes, den Patienten neurochirurgisch zu behandeln. Die Vorbereitung des Transports wird also auf die Transportzeit mit angerechnet, sodass diese nicht in jedem Fall zu gewährleisten ist. Mit dieser Begründung werden nun von Krankenkassen sogar Schlaganfallbehandlungen völlig unabhängig von der Notwendigkeit neurochirurgischer Intervention nachträglich nicht anerkannt.
Dr. Aldag: Obwohl diese einseitige Interpretation einschlägiger Abrechnungsregeln inzwischen durch – auch gesetzliche - Klarstellungen für die Zukunft korrigiert wurde, wird seitens der Krankenkassen durch besonders enge Auslegungen des Urteils bei der Transportzeit letztlich die Versorgung von Schlaganfallpatienten im Flächenland Niedersachsen generell gefährdet. Dies auch in der Region, wo die Akutversorgung in den Schlaganfallabteilungen der Krankenhäuser seit vielen Jahren auf hohem Niveau sichergestellt wird…
Böttcher: … und uns in unserer Region mit der Waldklinik Jesteburg darüber hinaus ein hochspezialisierter und hochqualifizierter Kooperationspartner für die im Anschluss häufig erforderlichen Rehabilitationsbehandlungen zur Seite steht. Diese Versorgungskette hat sich über Jahre weiterentwickelt. Sie trägt heute ganz maßgeblich dazu bei, durch rechtzeitiges und abgestimmtes Eingreifen in vielen Fällen Langzeitschäden zu vermeiden.
WOCHENBLATT: Welche Folgen hat die Verweigerungshaltung der Kassen für die Kliniken?
Dr. Aldag: Die Krankenkassen stellen trotz erbrachter Leistungen zum Teil Rückforderungen in Millionenhöhe oder verrechnen diese sogar gleich mit anderen Leistungen. Tausende von Klagen wurden erhoben und zumindest bisher auch noch nicht zurückgenommen. Mal abgesehen vom Verwaltungsaufwand, den das für die betroffenen Krankenhäuser bedeutet, ist diese extreme finanzielle Unsicherheit nicht zu tragen. Statt medizinischem Fortschritt erzielen wir Rückschritte, die sich auf Dauer auch auf die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Niedersachsen auswirken werden. Denn vor allem die Krankenhäuser sichern die Infrastruktur, die Unternehmen und Arbeitnehmer bei ihrer Ansiedlung nachfragen.
WOCHENBLATT: Herr Dr. Althusmann, wie stehen Sie als Wirtschaftsminister dazu?
Dr. Althusmann: Ich halte diese Entwicklung für besonders problematisch, weil in Deutschland die Organisation des Gesundheitssektors auf dem Prinzip der Selbstverwaltung beruht. Bund und Länder geben lediglich die gesetzlichen Rahmenbedingungen vor. Krankenkassen und Leistungserbringer organisieren sich selbst in Verbänden und übernehmen die medizinische Versorgung der Bevölkerung in Eigenverantwortung.
WOCHENBLATT: Was bedeutet das konkret?
Dr. Althusmann: Krankenkassen schließen selbst Verträge mit den Leistungserbringern wie Ärzten und Krankenhäusern und regeln die Bezahlung der erbrachten Leistungen aus den Mitgliedsbeiträgen. Dies ist ein Prinzip, das sich in der Vergangenheit bewährt hat. Das genannte Beispiel lässt nun aber befürchten, dass die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen aus dem Ruder läuft.
Böttcher: Es entsteht der Eindruck, als ob es den Kassen unter dem Deckmantel überzogener Qualitätsansprüche vorrangig darum geht, eigene wirtschaftliche Interessen wie etwa Leistungskürzungen durchzusetzen. Unter solchen Bedingungen können viele niedersächsische Krankenhäuser in der Fläche diese Angebote nicht mehr vorhalten. Aus unserer Sicht ist ein Eingreifen der Politik erforderlich.
WOCHENBLATT: Was können Sie tun?
Dr. Althusmann: Die Sicherung der wohnortnahen Krankenhausversorgung hat sich die Landesregierung zur originären Aufgabe gemacht, sie ist daher Bestandteil unseres Koalitionsvertrages. Es muss auch in einem Flächenland wie Niedersachsen eine Selbstverständlichkeit sein, dass für jede Patientin und jeden Patienten in kürzester Zeit eine hochwertige medizinische Versorgung vorgehalten wird. Daher sind gegenseitige Blockaden über Art und Umfang dieser medizinischen Versorgung nicht hinnehmbar. Konflikte wie diese sind geeignet, die Entwicklung des Wirtschaftsstandorts Niedersachsen dauerhaft zu behindern. Ich sage Ihnen deshalb zu, mich für die berechtigten Anliegen der niedersächsischen Krankenhäuser in der Landesregierung einzusetzen.
WOCHENBLATT: Vielen Dank für das Gespräch.
Redakteur:Oliver Sander aus Buchholz | |
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