„Inklusion ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess“

"Wir kommen in kleinen Schritten voran": Förderschulleiter Martin Ihlius, hier mit Wissenschaftlerin Dr. Carola Rudnick
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Interview mit Martin Ihlius, Leiter der Förderschule für geistige Entwicklung an Boerns Soll in Buchholz

(os). Martin Ihlius setzt sich mit ganzer Kraft für die Integration von Menschen ein. Im Interview mit WOCHENBLATT-Redakteur Oliver Sander erklärt der Leiter der Förderschule an Boerns Soll in Buchholz, wie Integration gelingen kann und warum er große Hoffnungen in die Inklusion legt.
WOCHENBLATT: In der Gesellschaft wird oft von Integration gesprochen. Wie definieren Sie Integration?
Martin Ihlius: Das Konzept der Integration geht davon aus, dass es eine Personengruppe gibt, die am Rande oder außerhalb der Gesellschaft steht und in sie einzubinden ist. Die zu integrierende Gruppe ist dabei durch die „Andersartigkeit“ oder durch „Besonderheiten“ definiert. Allein dies grenzt die betroffene Randgruppe aus. Dies können z.B. Menschen mit Behinderung sein. Hier wird deutlich, dass das Konzept der Integration ein Verständnis von Behinderung beinhaltet, das vorrangig die Behinderung als Zuschreibung von individuellen Merkmalen, Defiziten oder Besonderheiten sieht.
WOCHENBLATT: Demgegenüber steht der Ansatz der Inklusion...
Martin Ihlius: Die Inklusion geht vom Konzept der Teilhabe, Selbstbestimmung und uneingeschränkter Gleichstellung aus. Hier ist es die gemeinsame Aufgabe, für alle Menschen innerhalb einer Gesellschaft Zugänge gemäß ihrer individuellen Möglichkeiten zu schaffen. Diese Unterscheidung zwischen Integration und Inklusion hört sich zunächst theoretisch an, hat aber sehr konkrete Bedeutung für die Betroffenen.
WOCHENBLATT: Welche sind das?
Martin Ihlius: Auf Schule bezogen bedeutet dies z.B., dass nicht mehr die Zuweisung zu einer Förderschule durch die Landesschulbehörde erfolgen kann, sondern nur noch die Unterstützungsbedarfe für einzelne Schülerinnen und Schüler ermittelt werden. Die Eltern entscheiden dann über den Beschulungsort. Inklusion mit dem veränderten Blickwinkel ist Menschenrecht und Aufgabe der gesamten Gesellschaft und betrifft nicht nur einzelne Gruppen – wie z.B. Menschen mit Behinderung. Dies ist ein umfassender, anspruchsvoller, gesamtgesellschaftlicher Prozess. Unsere Gesellschaft steht erst ganz am Anfang der Umsetzung in vielen kleinen Schritten.
WOCHENBLATT:: Hat sich in den vergangenen Jahren der Umgang der Bürger gegenüber Menschen mit Behinderung geändert?
Martin Ihlius: Der Umfang der Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen oder Veränderungen der Bewertung von Behinderung ist schwer mit allgemeiner Gültigkeit zu ermitteln. Bezogen auf die schulische Inklusion ist deutlich ein Bewusstseinswandel festzustellen, wer für die Prozesse Verantwortung übernimmt. Hier hat das neue Schulgesetz die Verantwortung für die Umsetzung einer inklusiven Schule auf die allgemeine Regelschule übertragen. Eltern von schulpflichtigen Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf müssen nicht mehr um den Besuch einer Regelschule kämpfen und sind von Beschlüssen der Gesamtkonferenzen abhängig, sondern es ist selbstverständliche Aufgabe der allgemeinen Schule geworden, diesen Auftrag zu übernehmen. Hier hat es nach meiner Wahrnehmung einen Quantensprung in der Entwicklung gegeben.
WOCHENBLATT: Wird die Inklusion also zu einem Erfolgsmodell?
Martin Ihlius: Die Einführung der inklusiven Schule ist noch ein sehr junger Prozess, es bedarf noch viel Überzeugung, gerade auch schwierige Situationen zu meistern. Neben der Überzeugung, dass inklusiver Unterricht ein stark individualisierter Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler bedeutet, muss auch die Ressourcenfrage beantwortet werden. Inklusiver Unterricht zieht mehr planerischen Aufwand, mehr Absprachen mit unterschiedlichen Lehrkräften und Fachleuten nach sich. Dies bedeutet, Zeit zur Verfügung zu stellen und die Fachkräfte vorzuhalten. Dies gelingt nicht immer im ausreichenden Maße.
WOCHENBLATT: Sie haben mit Ihrer Schule Kooperationen mit den benachbarten Schulen. Inwiefern dient das der Integration Ihrer Schüler?
Martin Ihlius: Die Schule An Boerns Soll arbeitet seit über 15 Jahren mit dem Konzept der Kooperationsklassen. Das sind Klassen unserer Förderschule, die jedoch Räume an einer Regelschule nutzen und dort von Sonderpädagogen unseres Kollegiums unterrichtet werden. Der entscheidende Unterschied zur Beschulung in einer Förderschule ist der gemeinsame Unterricht mit gleichalterigen Schülern ohne Unterstützungsbedarf. Die Idee ist aus der Überzeugung entstanden, dass Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen viel vonein­ander und miteinander lernen können. In der Kooperation machen wir häufig die Erfahrung, dass gerade die schwerer beeinträchtigten Schülerinnen und Schüler in hohem Maße von der Dynamik, der intensiven Ansprache und der Wertschätzung durch die Mitschüler profitieren.
WOCHENBLATT: Welche Schwerpunkte muss die Politik in den kommenden Jahren bei der Integration/Inklusion setzen?
Martin Ihlius: Fortbildung, Beratung und Begleitung sind zentrale Punkte, die in Verbindung mit der Verfügbarkeit von ausreichenden Ressourcen notwendig sind, um die inklusive Beschulung positiv zu entwickeln. Hierzu wird die Schule An Boerns Soll ihren Beitrag leisten – unabhängig vom Ort und der Schule, an dem der einzelne Schüler bzw. die einzelne Schülerin beschult wird. Entscheidend wird aber auch die weitere Öffnung der Schule in der Abschlussstufe ab Klasse 10 sein. Ziel ist es, bessere Wahlmöglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler am Ende der Schullaufbahn zu erarbeiten, die sich auf die Bereiche Arbeit, Wohnen und Lebensgestaltung beziehen.
WOCHENBLATT: Herr Ihlius, vielen Dank für das Gespräch.

Lesen Sie zum Thema Intergration auch:
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"Sie sollen sich ausprobieren dürfen"

Redakteur:

Oliver Sander aus Buchholz

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