Den Vater bis zum Tod gepflegt: Ist ein todkranker Mensch nur noch ein Kostenfaktor?
Nadine Gladner hat ihren Vater versorgt und übt Systemkritik
tk. Buxtehude. "Das ist das letzte, was ich für meinen Vater noch tun kann", sagt Nadine Gladner. Sie hat ihren Vater Jörn Gladner zwei Jahre nach einer mehreren Krebs-Operationen bis zu seinem Tod vor wenigen Tagen gepflegt. Die berufstätige Mutter musste von jetzt auf gleich die Versorgung übernehmen. Die Erfahrungen, die sie in den zwei Jahren gemacht hat, lassen Nadine Gladner ein bitteres Fazit ziehen: "Ich wurde alleine mit allem gelassen."
Wie viele Absagen sie nach Anträgen auf Hilfe gestellt hat, weiß sie nicht mehr. Die Akten füllen einen ganzen Karton. Nadine Gladners aktuelle Mission: "Ich will wachrütteln." Das System müsse sich ändern. Außerdem könne jeder plötzlich todkrank werden oder müsse einen Angehörigen pflegen. "Darauf solle sich jeder Mensch vorbereiten und das Thema nicht verdrängen", lautet ihr Appell.
Ihr Vater wurde nach vier Krebs-Operationen zum Pflegefall. Schon vorher litt er unter der Atemwegserkrankung COPD. Der soziale Dienst eines Hamburger Krankenhauses wollte ihn trotz künstlicher Ernährung nach der OP nach Hause entlassen. Es seien noch drei Tage bis zur Entlassung, sie möge alles vorbereiten. "Das war ein Kraftakt", sagt Nadine Gladner rückblickend. Sie räumte ein Zimmer frei und nahm ihren Vater auf. Sie musste sogar die Wunde absaugen, die durch einen Luftröhrenschnitt zur Beatmung entstanden war. "Mein Vater konnte nicht sprechen und nicht essen", blickt Nadine Gladner auf den Beginn ihrer Pflegeerfahrung zurück. Auf die ersten beiden Anträge auf Eingruppierung in eine Pflegestufe hat sie nie eine Antwort bekommen. Erst im dritten Anlauf, nach anderthalb Jahren, wurde die Einstufung vorgenommen.
Besser wurde es im Leben ihres Vater dennoch nicht. Der Krebs war geheilt aber die Atemwegserkrankung wurde schlimmer. "Das ist nicht heilbar und endet mit dem Tod", sagt Nadine Gladner. Was sie wütend macht: Es hätte nach ihrer Überzeugung Wege gegeben, ihrem Vater das Leben dennoch angenehmer zu machen.
"Mein Vater hatte Todesängste und Panikattacken", sagt die Pädagogin aus Buxtehude, die in einem Kinderheim gearbeitet hatte, bis sie selbst unter der Pflegebelastung zusammenbrach. "Wir wurden alleingelassen", kritisiert sie das System.
Zwei Beispiele: Die Atemwegserkrankung führte zu extremen psychischen Problemen und einer Abhängigkeit von starken Beruhigungsmitteln. Ein Lungenfacharzt, Nadine Gladner und ihr Vater selbst wollten daher die vorübergehende Unterbringung in der Psychiatrie. "Damit er lernt, mit seiner Angst umzugehen." Das wurde abgelehnt. Psychisch sei er nicht krank genug. Selbst die Taxifahrten zur Physiotherapie und Logopädie wurden irgendwann nicht mehr übernommen. Bei einer Logopädin sollte Jörn Gladner wieder das Essen lernen. Bis zu seinem Tod war er auf künstliche Ernährung angewiesen. "Mein Vater hat von 960 Euro Rente gelebt", sagt Nadine Gladner. Und das, obwohl er 26 Jahre bei AOS im Schichbetrieb gearbeitet hat und eigentlich genug Geld in die Sozialkassen geflossen sei.
"Papa möchte doch nur Hilfe haben", hat sie oft geschrieben, wenn es wieder einmal ein Nein von den Kostenträgern gab. Als endlich die Eingruppierung in eine Pflegestufe durch war, wurde die Medikation von einem Pflegedienst übernommen. Wenn sie morgens wegen ihres Jobs keine Zeit hatte, ihren Vater zu waschen, musste Nadine Gladner diese Leistung aber privat bezahlen. "So etwas geht mit der Zeit ins Geld."
"Das System funktioniert nicht", bilanziert Nadine Gladner. Wenn ein Mensch schwer erkranke, müsse es von Anfang an so etwas wie einen Fahrplan geben. Risiken der Krankheit aber auch Ziele von Therapie müssten durch intensive Gespräche mit dem Kranken und seinem Angehörigen geklärt werden. Und es müsste eine zentrale Anlaufstelle geben, die den Pflegenden schnell und unbürokratisch hilft. Wo gibt es welche Unterstützung, auf welche Gelder haben ein kranker Menschen und seine pflegenden Angehörigen Anspruch? "Am besten wäre es, wenn es dabei noch Unterstützung bei der Antragsstellung gibt", meint Nadine Gladner.
Für sie bleibt nach zwei Jahren Pflege und dem ständigen Kampf um Unterstützung das Gefühl, dass ein Totkranker nur noch als Kostenfaktor gesehen wird, dem Reha und eine Verbesserung seines Lebens zu schnell verweigert werden. "Offenbar lohnt es sich nicht, dort noch Geld zu investieren." Sie ist überzeugt, dass die letzten Jahre für ihren Vater auch angenehmer hätten verlaufen können. Zum Schluss, sagt sie traurig, war er auf 48 Kilo abgemagert.
Tröstlich für die Tochter: Die letzten zwei Monate in einer Klinik in Großhansdorf waren so, wie sich Nadine Gladner den wertschätzenden Umgang mit einem Sterbenden vorstellt: Liebevoll und mit viel Zeit auch für die Angehörigen.
Für Nadine Gladner beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt: Im April erwartet sie ein Baby und im Sommer will sie heiraten. Doch vorher will sie noch als Vermächtnis ihres Vaters wachrütteln: "Beim Thema Tod, Pflege und Sterben stehlen sich zu viele, auch die sogenannten Kostenträger, aus ihrer Verantwortung. Das muss sich ändern!"
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