Die Jugendämter brauchen mehr Fachpersonal
Studie der Deutschen Kinderhilfe offenbart Mängel / Praktiker aus der Region bewerten Ergebnisse
tk. Landkreis. Stehen die Jugendämter in Deutschland wegen permanenter Arbeitsüberlastung vor dem Kollaps? Im Auftrag der Deutschen Kinderhilfe hat die Hochschule Koblenz deutschlandweit die Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) der Jugendämter beleuchtet. Der ASD hat als Wächter über das Kindeswohl auch über die Herausnahme von Kindern aus ihren Familien oder Hilfen zur Erziehung zu entscheiden. Laut Studie kümmern sich manche ASD-Kräfte um bis zu 100 Familien gleichzeitig. Empfehlenswert seien aber nur 35 Fälle. "Gut, dass eine Diskussion über die wichtige Arbeit des ASD angestoßen wurde", sagt Thorsten Treybig, Jugendamtsleiter im Landkreis Harburg. Seine Buxtehuder Kollegin Andrea Lange-Reichardt ergänzt: "Die größten Probleme für den ASD sind nicht die Fallzahl, sondern das fehlende Fachpersonal."
Am Montag wurde die Studie vorgestellt. Die Autorinnen ziehen ein düsteres Fazit: "Die Ergebnisse zeigen, dass die derzeitigen strukturellen Rahmenbedingungen im System der Kinder- und Jugendpflege eine professionelle sozialpädagogische Arbeit behindern." Das lassen Treybig und Lange-Reichardt so nicht stehen. Die Buxtehuder Jugendamtschefin stellt aber grundsätzlich fest, dass es einen Widerspruch zwischen gesetzlichem Auftrag und faktischen Möglichkeiten vor Ort gebe. Das Sozialgesetzbuch ist Bundesrecht und garantiert Kindern und Jugendlichen ihr verankertes Recht auf ihre positive Entwicklung. "Faktisch entscheidet aber die Finanzlage der jeweiligen Kommune darüber, welche Angebote ein Jugendamt machen kann."
Hinzu komme, dass die Jugendämter nicht nur in Fällen von Kindeswohlgefährdung tätig werden. "Es gibt viele freiwillige Aufgaben, die der Gesetzgeber nicht vorschreibt wie die Hilfen zur Erziehung als Pflichtaufgabe", so Andrea Lange-Reichardt. Erziehungsberatung oder in Buxtehude die "Frühen Hilfen" seien solche Angebote.
Auch Winsens Jugendamtsleiter Thorsten Treybig will die Diskussion nicht auf die Fallzahl eingrenzen. "Da laufen wir Gefahr, Äpfel mit Birnen zu vergleichen." Denn die Jugendämter in Deutschland seien unterschiedlich aufgestellt. So werde in manchen Kommunen die Beratung bei Trennung und Scheidung oder die Erziehungsberatung an externe Träger vergeben, bei anderen Jugendämtern verbleibe sie beim ASD.
Einigkeit bei den Experten: Eine hohe Kompetenz der Mitarbeiter beim ASD sei unabdingbar. Und hier sieht Andrea Lange-Reichardt ein wachsendes Fachkräfteproblem. Die Arbeit im ASD bringe eine sehr hohe Belastung mit sich. Dort müssten eigentlich die Besten arbeiten. Bei einem Einstiegsgehalt von 1.600 Euro netto sei dieser Beruf, der eher eine Berufung als ein Job sei, aber wenig attraktiv für junge Hochschulabsolventen. Und wenn Personal fehle, nehme die Arbeitsbelastung für den Einzelnen zu.
Weil das Jugendamt als gesetzlicher Wächter über das Wohl von Kindern eine extrem wichtige Aufgabe habe, sollte es einen gesellschaftlichen Konsens darüber geben, dass der ASD immer gut ausgestattet ist, findet Treybig.
• Kathinka Beckmann ist die Professorin an der Hochschule Koblenz, die diese Studie geleitet hat. Sie hat dafür deutschlandweit 625 Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) befragt. Nur in 68 Prozent aller Jugendämter werde die Empfehlung, dass sich eine Kraft um maximal 35 Fälle bzw. Familien kümmert, eingehalten. Diese Fallgrenze hat die Bundesarbeitsgemeinschaft ASD definiert.
Der Studie zufolge müssen die ASD-Mitarbeiter zudem 63 Prozent ihrer Arbeitszeit mit der Dokumentation verbringen. Die Folge: Es fehlt Zeit für Besuche in den Familien. 58 Prozent der ASD-Mitarbeiter haben gesagt, dass sie bei ihren Besuchen weniger als eine Stunde Zeit in den Familien verbringen. Zudem fehle es häufig an der Zeit, neue Kolleginnen und Kollegen einzuarbeiten. Dass führe laut Beckmann zu einer starken Fluktuation vor allem bei Berufsanfängern. Und: Wenn Mitarbeiter fehlen, würden Familien von wechselnden Sozialpädagogen betreut. Laut der Untersuchung wechseln in 52 Prozent aller Fälle die Betreuer mehr als einmal.
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