Einsichten, Ansichten und Aussichten
Von teuren Chemieexperimenten bis zu politischen Trittbrettfahrern
Nicht alles, was bei einem Termin oder einer Recherche an Informationen zusammenkommt, wird Teil eines Artikels. Und auch nicht alles, was in unseren Redaktionen an Diskussionen über Themen stattfindet, findet immer Eingang in die Berichterstattung. Eigentlich schade, denn manches, was spannend ist, bleibt dabei außen vor. Daher starten die beiden WOCHENBLATT-Redaktionsleiter im Landkreis Stade, Jörg Dammann und Tom Kreib, jetzt eine neue Serie: "Einsichten, Ansichten und Aussichten" Ab und an wollen wir berichten, was wir bisher nicht berichtet haben.
Im März hat das WOCHENBLATT die rassismuskritischen Online-Veranstaltungen unter dem Leitsatz "Solidarität-Grenzenlos" im Kreis Stade mit einer Artikelserie begleitet. Menschen, die von Rassismus betroffen sind und solche, die sich kritisch damit auseinandersetzen, haben über ihre Erfahrungen geschrieben. Die Geschichten waren ehrlich, spannend und manchmal auch traurig. Was absolut erfreulich war: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, blieben Polemik und Hetze gegen Geflüchtete aus. Im Umkehrschluss kann das auch bedeuten: Die Gesellschaft im Kreis Stade ist in den vergangenen Jahren offener und toleranter geworden. Hoffen wir, dass dieser Weg des Miteinanders weiter geht.
Anfang Februar sorgte ein Feuerwehrgroßeinsatz für Schlagzeilen weit über Buxtehude hinaus: Ein Chemiestudent stellte im heimischen Kellerlabor offenbar versehentlich Blausäure her. Der junge Mann wurde nicht ernsthaft verletzt.
Allerdings dürfte dieses Experiment wohl das teuerste seines Lebens werden: Der Landkreis wird eine Rechnung schreiben, weil der Einsatz der Dekontaminationsexperten der Kreisfeuerwehr durch Fahrlässigkeit notwendig wurde. Auch die Stadt Buxtehude prüft, ob sie eine Rechnung schreiben muss. Also: Augen auf bei der Wahl der Substanzen aus dem Chemiebaukasten für Große.
Seit Anfang des Jahres hat Stade einen neuen Pressesprecher. Zu dessen Job gehört es, die lokalen Zeitungen mit Pressemitteilungen zu versorgen. Zu diesen Mitteilungen werden oft Fotos mitgeliefert - und was war auf denen zu sehen? Sönke Hartlef, Sönke Hartlef, noch mal Sönke Hartlef und wieder Sönke Hartlef.
Im Schnitt alle vier bis fünf Tage trudelte eine neue Pressemitteilung mit dem Konterfei des Stader Bürgermeisters ein - mal ging es um Gratis-Masken für die Bürger, mal um die Opfer der Nazi-Herrschaft, mal um das neue Stadt-Logo. Doch was steckt hinter dieser Öffentlichkeits-Offensive aus dem Stader Rathaus? Anders als seine Amtskollegin aus Buxtehude muss Hartlef sich in diesem Jahr nicht zur Wiederwahl stellen. Inzwischen hat wohl auch der Pressesprecher bemerkt, dass er seinen neuen Chef ein wenig zu oft abgelichtet hat: Hartlef-Fotos gibt es jetzt nur noch im Rhythmus von zwei bis drei Wochen.
Bleiben wir beim Thema Pressemitteilungen. Die werden mit schöner Regelmäßigkeit auch von einem Politiker verschickt, der jede Menge Öffentlichkeit bitter nötig hat: Björn Protze, SPD-Fraktionschef im Kreistag, will schließlich Nachfolger von Landrat Michael Roesberg werden. Um sich mehr ins mediale Rampenlicht zu rücken, verfasst Protze fleißig Verlautbarungen.
Darin geht es aber nicht um politische Sachthemen aus der Region, wie man es bei einem Wahlkämpfer um den Landratsposten erwarten dürfte. Protze verkündet Nachrichten, die von Pressemitteilungen des Landes längst bekannt sind: Corona-Hilfen für Sportvereine, 70 Mio. Euro für die Ganztagsschulen im Land, Fördergelder für den ÖPNV... Alles versehen mit ein paar eigenen Zitaten und schon wird aus einer Sache, an der er nicht direkt beteiligt war, eine persönliche Erfolgsmeldung.
Das soll jetzt keine reine Protze-Schelte sein, denn publizistische Trittbrettfahrer gibt es auch in den anderen Parteien. Vom WOCHENBLATT ein kleiner Hinweis an diese Politiker: Für solche als Pressemitteilung deklarierte Wahlwerbung ist uns der redaktionelle Platz zu schade.
Vor ein paar Wochen berichtete das WOCHENBLATT über einen Fall von schwerem sexuellen Kindesmissbrauch. Ein 36-Jähriger musste sich vor dem Amtsgericht Stade verantworten, weil er sich an seiner eigenen Tochter vergangen hatte. Zum Tatzeitpunkt war das Kind erst ein Jahr alt. Auf die Schliche war die Polizei dem Mann gekommen, weil er seine abscheulichen Taten mit dem Handy gefilmt hatte. Das erfuhr die Presse aber nicht beim Prozess, sondern aus anderen Quellen. Denn die Öffentlichkeit wurde auf Antrag der Verteidigung noch vor Verlesung der Anklageschrift ausgeschlossen - aus Gründen des Täterschutzes.
Erst die Urteilsverkündung sollte - wie vom Gesetz vorgesehen - wieder öffentlich sein. Daher fragte das WOCHENBLATT einen Tag nach dem Prozessauftakt beim Amtsgericht nach, für wann die Verkündung des Urteilsspruchs terminiert ist. Landgerichts-Pressesprecherin Petra Linzer, die die Vertretung für ihre erkrankte Kollegin beim Amtsgericht übernommen hatte, sagte zu, sich darum zu kümmern, dass das WOCHENBLATT den Termin rechtzeitig erfährt.
Diese Zusage war reine Makulatur, wie sich jetzt herausstellt: Beim Telefonat mit Linzer war das Urteil bereits gesprochen. Der vorbestrafte Täter war noch am ersten Verhandlungstag zu zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt worden. Dabei wirkte sich sein Geständnis strafmildernd aus.
Das merk- und denkwürdige Hin und Her um die erneute Schließung von zwei Gruppen der Lebenshilfe Kita "Inne Beek" in Buxtehude-Immenbeck, wegen angeblichem Personalmangel, war für die betroffenen Eltern und Kinder überflüssig und zerrte an deren Nerven. Die Sondersitzung des Buxtehuder Jugendhilfeausschusses dazu offenbarte jenseits des Kita-Themas eine bemerkenswerte Sicht auf die Arbeit der Presse. Und zwar die vorwurfsvoll von Lebenshilfe-Geschäftsführerin Iris Wolf ausgesprochene Kritik, warum sich die Eltern überhaupt "an die Presse gewendet" hätten. Mit einem unüberhörbaren Unterton, als ob das etwas ganz Verwerfliches wäre.
Die Eltern haben das einzig Richtige getan. Sie haben über einen Missstand informiert und dafür gesorgt, dass er öffentlich wurde. Manchmal, das zeigt die Causa "Inne Beek" deutlich, muss kritische und hinterfragende Berichterstattung sein. Dann kommt etwas in Bewegung. Also: Weiterhin die Presse informieren. Auch wenn das einigen, die lieber unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung bleiben möchten, überhaupt nicht passt.
Jörg Dammann & Tom Kreib
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