Betroffene kritisieren Nachruf für Täterin
Vorfälle von psychischer und physischer Gewalt in Buxtehuder Kirchengemeinde
Die evangelische St.-Petri-Kirchengemeinde in Buxtehude wird von einem Skandal erschüttert. Die Vorwürfe wiegen schwer: Es geht um Kinder- und Jugendfreizeiten, bei denen die Teilnehmer emotional unter Druck gesetzt und ehrenamtliche Betreuerinnen übergriffig wurden. Skandalös ist aus Sicht der Betroffenen einerseits, dass die inzwischen mehr als 15 Jahre zurückliegenden Vorfälle nie aufgearbeitet wurden. Noch größer ist aber die Empörung darüber, dass eine der mutmaßlichen "Täterinnen" trotz der massiven Beschuldigungen im Dezember-Gemeindebrief mit einem Nachruf anlässlich ihres Todes als "eine prägende Persönlichkeit der evangelischen Jugendarbeit" gewürdigt wurde, der die St.-Petri-Gemeinde "viel zu verdanken" habe. In diesem Zusammenhang wird dem verantwortlichen Pastor Thomas Haase vorgeworfen, nicht angemessen mit dem Thema umzugehen und Betroffene so zu brüskieren. Er stehe "einer sinnvollen Aufarbeitung des Missbrauchs im Weg", so die Kritik.
Die damaligen Vorfälle auf Kirchenfreizeiten
Die Vorfälle sollen sich in den Jahren 2006 bis 2009 zugetragen haben. Damals waren zwei Frauen mittleren Alters in der Kirchengemeinde aktiv. Sie leiteten ehrenamtlich Kinder- und Jugendgruppen und richteten Freizeiten aus. Bei diesen bis zu 14-tägigen Fahrten sollen die Leiterinnen nach Aussagen von Betroffenen - dazu zählten vor allem Kinder im Grundschulalter - Handlungen vorgenommen haben, bei denen man von psychischer sowie physischer Gewalt sprechen kann. In einem 2009 verfassten Protokoll über das Gespräch einer Mutter zweier betroffener Kinder mit der damaligen Pastorin und dem Kirchenvorstands-Vorsitzenden berichtet diese über mehrere Vorkommnisse. U.a. soll sich ihr Sohn eingenässt haben, weil er eine Gruppenrunde nicht verlassen durfte - mit der Begründung, Kinder müssten lernen, Regeln einzuhalten.
Noch ungeheuerlicher sind die Erlebnisse, die die Tochter - diese ist inzwischen eine junge Frau - kürzlich niedergeschrieben hat. Sie reagierte damit auf den vom jetzigen Pastor Haase verfassten Nachruf, den sie als "Hohn" gegenüber all denjenigen bezeichnet, die teils jahrelang unter den fragwürdigen und völlig unpädagogischen Methoden der beiden Gruppenleiterinnen gelitten haben. Die Betroffene, die als Grundschülerin an mehreren Fahrten teilnahm, berichtet exemplarisch von drei Fällen.
Kinder wurden ausgesperrt
Einmal wurde das Heimweh der damals Siebenjährigen "kuriert", indem eine der beiden Leiterinnen das heulende Kind am Arm packte und gewaltsam zum Auto zerrte, mit dem Vorwand, es ins Krankenhaus zu bringen, um das Heimweh dort zu behandeln. Auf einer anderen Freizeit wurde das Mädchen gezwungen, bis Mitternacht am Essenstisch sitzen zu bleiben, weil es nicht geschafft hatte, beim Abendbrot ein Glas Milch auszutrinken und eine Scheibe Käse zu essen. Beim dritten Vorfall wurden mehrere Kinder nachts im Dunkeln längere Zeit draußen ausgesperrt, weil sie zuvor angeblich unerlaubt auf einer Wiese gespielt haben sollen. Sie durften die Unterkunft auch nach intensivem Bitten nicht betreten. Die Leiterinnen gaben erst nach, als einige Kinder sich an die benachbarte Feuerwache wandten.
Mit Fieber unter die Dusche
Auch gegenüber anderen Kindern überschritten die beiden Leiterinnen mit ihren unangemessenen und dilettantischen Erziehungsmethoden Grenzen und verursachten psychische Qualen, die heute noch nachwirken. So zeigte eine Betroffene zehn Jahre später - im Jahr 2020 - einen Fall bei der Polizei an, bei dem sie auf einer Kirchenfreizeit wegen einer fiebrigen Erkrankung zu heiß-kalten Wechselbädern unter der Dusche gezwungen wurde. Spätestens 2009 sollen Verantwortliche der Kirchengemeinde von den Vorkommnissen Kenntnis erlangt haben. Doch bis auf das protokollierte Gespräch passierte nichts. Auch die Beschwerden anderer Eltern liefen offenbar ins Leere. Eine Mutter berichtete, sie habe das Thema nicht mehr angesprochen, nachdem sie Anfeindungen als "Nestbeschmutzerin" ausgesetzt war. Die beiden Leiterinnen wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Sie gaben ihre ehrenamtliche Tätigkeit in der kirchlichen Jugendarbeit erst Jahre später aus anderen Gründen auf.
Der unsägliche Nachruf im Gemeindebrief
Als Anfang Dezember 2023 im Gemeindebrief der vom Pastor Haase verfasste Nachruf auf eine der beiden Betreuerinnen erschien, wandten sich laut einem Schreiben, das dem WOCHENBLATT vorliegt, betroffene Opfer "fassungslos" an den Pastor. Dieser Nachruf "ignoriert das Leid und die Qualen der Kinder, die auf Freizeiten unter dem Verhalten" der jetzt verstorbenen Betreuerin "gelitten" hätten, so die Kritik. "Ich bin mehr als entsetzt, dass die Kirchengemeinde es bis heute nicht geschafft hat, den psychischen und physischen Missbrauch, der Kindern und Jugendlichen unter ihrem Dach angetan wurde, auch nur ansatzweise angemessen zu verurteilen", schreibt eine der Betroffenen. Diese verlangten eine Richtigstellung im nächsten Gemeindebrief und wollten darin selbst zu Wort kommen. Das soll abgelehnt worden sein. Immerhin: Der Artikel mit dem Nachruf wurde in der Online-Version, die auf der Homepage der Gemeinde heruntergeladen werden kann, gelöscht.
Der merkwürdige Umgang mit den Betroffenen
Im jetzt erschienenen März-Gemeindebrief ist nun eine Stellungnahme des Kirchenvorstandes abgedruckt. Zu den Vorwürfen gegen die damaligen Betreuerinnen heißt es: "Wir halten diese Schilderungen für glaubwürdig." Das erlittene Leid habe bisher keine angemessene Beachtung gefunden. Außerdem sei das Pfarramt nicht korrekt mit den Reaktionen auf den Nachruf umgegangen. Dafür bitte man "die Betroffenen um Entschuldigung". Der Entschuldigung folgt eine Ankündigung: "Die jüngsten Geschehnisse haben zu der Entscheidung geführt, innerhalb der Kirchengemeinde aktiv und selbstkritisch einen 'Aufarbeitungsprozess' zu beginnen." Doch genau diesen Aufklärungswillen zweifeln Betroffene an. Sie werfen dem Pastor zum einen vor, an den Kirchenvorstand gerichtete E-Mails, in denen es um die damaligen Vorfälle geht, nicht an den Kirchenvorstand weitergeleitet zu haben. Zum anderen wird der Pastor kritisiert, weil er angibt, von den damaligen Vorfällen erst jetzt erfahren zu haben. Diese Behauptung nehmen ihm die Betroffenen nicht ab.
Die Vorwürfe gegenüber dem jetzigen Pastor
Pastor Haase hätte sich vor dem Verfassen des Nachrufs über die betreffende Person informieren müssen, so der Vorwurf. Berichte über die Vorfälle gebe es schließlich in den Gemeindeakten. Den Hinweis des Pastors, dass er erst Jahre nach den Geschehnissen sein Amt in der Gemeinde angetreten und folglich davon keine Kenntnis gehabt habe, bezeichnen Betroffene wörtlich als Versuch, "die Hände reinwaschen" zu wollen. Er müsse spätestens 2020 nach der Strafanzeige eines Opfers bei der Polizei aufgrund der Ermittlungen von den Vorgängen erfahren haben. Außerdem sollte Haase laut WOCHENBLATT-Informationen zu den Betroffenen, die sich nach dem Erscheinen des Nachrufs gemeldet hatten, auf Beschluss des Kirchenvorstands Kontakt aufnehmen, um diese um Verzeihung zu bitten. Dies sei erst Wochen später und nur halbherzig geschehen, so die Kritik der Betroffenen.
Tatsächlich schrieb Pastor Haase mit anderthalbmonatiger Verspätung in einem dünnen Dreizeiler, es tue ihm sehr leid, "dass der Nachruf und der Umgang mit den Reaktionen viele Verletzungen ausgelöst haben". Eines der Opfer findet zu dieser einsilbigen Stellungnahme klare Worte: "Das ist erbärmlich und lässt mich einmal mehr fassungslos zurück."
Angebot zur Stellungnahme wird ausgeschlagen
Das WOCHENBLATT hat in einem Gespräch mit dem Buxtehuder Superintendenten Dr. Martin Krarup und einem Vertreter des Kirchenvorstandes das Angebot gemacht, dass Pfarramt und Kirchenvorstand eine ausführliche Stellungnahme abgeben können. Dafür war in dieser Ausgabe Platz für einen größeren Text eingeplant. Nachdem eine solche Stellungnahme seitens der Gemeinde-Verantwortlichen zunächst zugesagt wurde, erklärte Superintendent Krarup später, dass man der im Artikel erwähnten Erklärung im aktuellen Gemeindebrief zum jetzigen Zeitpunkt nichts hinzuzufügen habe. Den Vorschlag Krarups, an dieser Stelle einfach die Erklärung abzudrucken, lehnt das WOCHENBLATT ab, weil diese aus Sicht der Redaktion weder ausreichend noch angemessen ist. Auf Nachfrage teilte Krarup zudem mit, dass Pastor Haase derzeit für ihn und den Kirchenvorstand nicht erreichbar sei.
Kommentar zu den Vorkommnissen in der St.-Petri-Gemeinde
Ebenso skandalös wie die ungeheuerlichen Vorgänge auf den Kirchenfreizeiten ist die Tatsache, dass die Geschehnisse über Jahre hinweg von den Verantwortlichen in der Buxtehuder St.-Petri-Gemeinde totgeschwiegen wurden - nach dem Motto: Es wird schon Gras über die Sache wachsen. Diese Strategie wäre wohl aufgegangen, hätte der Pastor nicht den unsäglichen Nachruf verfasst.
Die Taktik des Vertuschens, Verschleierns und Verschweigens ist bei Missbrauchsfällen eine gängige Praxis sowohl in der katholischen als auch evangelischen Kirche. Die Buxtehuder Kirchenoberen haben eine Chance verpasst, öffentlich zu erklären: Wir entschuldigen uns für den Umgang mit den Betroffenen und bemühen uns jetzt um größtmögliche Transparenz bei der Aufklärung der Vorfälle.
Anlässlich einer im Januar veröffentlichten Studie zu sexuellen Missbrauchsfällen in der evangelischen Kirche hatte Superintendent Krarup noch kritisiert: "So mussten Betroffene immer wieder erleben, dass ihre Anliegen kein Gehör fanden." Jetzt stellt sich heraus, dass dieser Satz genauso zutreffend ist für die Situation in seiner eigenen Kirchengemeinde.
Jörg Dammann
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