Adiebullah M. hat sein Zuhause verloren und das Sozialamt meldet sich im schlimmsten Amtsdeutsch
Wohnung ausgebrannt und Druck vom Landkreis
Kreisverwaltung will nach WOCHENBLATT-Artikel Adiebullah M. die Hilfen streichen tk. Buxtehude. Das WOCHENBLATT hatte Anfang März über Adiebullah M. (74) berichtet. Seine Wohnung im Buxtehuder Skandalhochhaus Schröderstraße 9 ist nach einem Brand unbewohnbar. Weil Vermieter Sven Basner abgetaucht ist, gibt es für die dringend notwendige Sanierung keinen Ansprechpartner. Der gebürtige Afghane ist faktisch obdachlos und wohnt daher vorübergehend bei seinem Bruder in Hamburg. "Armer Mann, vom Schicksal gebeutelt" werden manche WOCHENBLATT-Leser vielleicht gedacht haben. Auch Frau M. vom Sozialamt des Landkreises Stade hat den WOCHENBLATT-Artikel gelesen. Ihre Reaktion: ein "Anhörungsverfahren gemäß § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)". Das ist im Wortlaut die Betreffzeile des Behördenbriefs den Adiebullah M. erhielt.
Was ihm der Kreis vorwirft: Weil er sich vorübergehend bei seinem Bruder in Hamburg aufhält, hat er Leistungen zu Unrecht bezogen. Obwohl es sich um eine Anhörung handelt, stellt das Kreissozialamt die Dinge als Fakten dar: "Es sind 2.124,16 Euro zu Unrecht gewährt worden." Die müssen zurückgezahlt werden. In bestem Amtsdeutsch steht in dem Schreiben: "Weiterhin ist beabsichtigt, gemäß § 86a Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die sofortige Vollziehung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids anzuordnen."
Was zudem bemerkenswert inkonsequent ist: Das Sozialamt wirft M. vor, nicht mehr im Kreis Stade zu wohnen. Das Schreiben geht aber an seine Buxtehuder Adresse.
Ms. Nichte, Rouja Azizullah, die sich bislang um ihren Onkel gekümmert hat, wurde von dem harschen Brief überrascht. Die Tragweite hat sie sofort erkannt. Denn sie arbeitet bei der Agentur für Arbeit in Hamburg und kennt sich im Sozialrecht daher aus. "So wie die Behörde reagiert, ist das unmenschlich", findet sie. Und ihr Onkel M. stellt nüchtern fest: "Für mich ist das keine gute Zeit."
Der Landkreis ist im Recht, betont Sozialdezernentin Susanne Brahmst: "Wir müssen die entsprechenden Gesetze anwenden", sagt sie. Einen Spielraum gebe es dabei nicht. Den konkreten Fall von Adiebullah M. könne sie aus Datenschutzgründen nicht kommentieren. Grundsätzlich aber gelte: Bei der Grundsicherung, die auch M. bekommt, sei das Örtlichkeitsprinzip entscheidend. Wenn der Verdacht besteht, dass sich ein Empfänger der Leistungen nicht mehr im Kreis Stade aufhalte, müsse ein solches Verfahren gestartet werde. "Das ergebnissoffen ist", wie Brahmst betont. Ein Anhörungsverfahren sei im Prinzip auch für die Betroffenen etwas Gutes, so die Sozialdezernentin. Sie kämen schließlich auch zu Wort. Das hat in diesem Fall aber einen gewaltigen Haken. Denn das Kreissozialamt hat - obwohl es noch ein Anhörungsverfahren ist - die sofortige Vollziehung angeordnet. Das heißt: Selbst wenn M. gegen einen späteren Beschluss klagen würde, müsste er das Geld sofort zurückzahlen und bekäme keine Leistungen mehr. Weder Widerspruch noch Klage haben in diesem Fall eine aufschiebende Wirkung. Allerdings ist dem Verfasser im Stader Kreishaus bei diesem harten Druckmittel ein handwerklicher Fehler unterlaufen. Die Begründung der sofortigen Vollziehung mit Verweis auf den entsprechenden Paragrafen ist nicht vollständig und damit, so ein Jurist, "zumindest ein Stück weit rechtsfehlerhaft".
Das WOCHENBLATT hat über den Fall Adiebullah M. mit dem Juristen gesprochen, der in diesem Fall namentlich nicht genannt werden will. Richtig sei, dass in diesem Fall ermittelt werden müsse. Auch dann, wenn die Grundlage ein WOCHENBLATT-Artikel ist. Allerdings müsse ein solches Verfahren nicht gleich mit dieser Härte ablaufen. Zum einen sei die sofortige Vollziehung bemerkenswert und zum anderem sei es keinem Behördenmitarbeiter untersagt, vor einem solchen Brief wenigstens kurz zu recherchieren. "Eine Vorfeldermittlung gehört sogar zum Amtsermittlungsgrundsatz", so der Jurist. In diesem Fall wäre das sogar ganz einfach gewesen: Ein Anruf beim WOCHENBLATT, um einen Kontakt zu Ms. Nichte Rouja Azizullah herzustellen. Das wäre vielleicht sogar der bessere Weg gewesen. Dann wäre zumindest vor einem offiziellen Verwaltungsverfahren schon klar gewesen, dass M. keinen Cent auf der hohen Kante hat, um das geforderte Geld tatsächlich zurückzuzahlen.
KOMMENTAR: Das ist nicht alternativlos
Ohne Zweifel richtig: Wenn eine Behörde Zweifel hegt, dass jemand Leistungen zu Recht beziehen könnte, dann muss sie dem nachgehen. Insofern stimmt es, wenn Sozialdezernentin Susanne Brahmst davon spricht, dass es alternativlos ist, im Fall von Adiebullah M. nachzuhaken. Doch genauso alternativlos ist es, dass das WOCHENBLATT in diesem Fall sehr genau hinschaut. Denn eine Behördenmitarbeiterin hat einen WOCHENBLATT-Artikel als Grundlage für den Frontalangriff des Sozialamts auf einen alten Mann genutzt.
Und die Form des Behördenhandelns ist alles andere als alternativlos: Angefangen mit der Sprache: Bürokratendeutsch mit vielen Abkürzungen und Paragrafenverweisen, die schlichtweg unverständlich sind. Beim Versuch, das auf Anhieb zu verstehen, würde fast jeder, der sich nicht im Behördendschungel bestens auskennt, scheitern.
Weiter: Erst ein Jurist, bei dem das WOCHENBLATT nachfragt, bemerkt, dass dieses Schriftstück beim Thema der sofortigen Vollziehung auch noch rechtsfehlerhaft ist, weil zwar der entsprechende Paragraf samt Absatz, aber nicht die dazugehörige Ziffer genannt wurde.
Genauso wenig alternativlos ist es, dass gleich "scharf geschossen" wird. Dass es im Vorfeld keinerlei Ermessensspielraum gibt, stimmt schlicht und ergreifend nicht. Die Mitarbeiterin im Sozialamt hätte einfach nur zum Telefon greifen können, um zur Nichte von Adiebullah M. Kontakt aufzunehmen. Gut möglich, dass sie danach trotzdem einen solchen Brief verfasst hätte. Vielleicht aber auch nicht, weil sich die Dinge hätten anders (er)klären lassen. Offensichtlich steht im Kreishaus die schnelle Massenabfertigung von Fällen im Fokus und nicht die schon im Vorfeld abwägende Überprüfung eines Einzelfalls.
Das Verfahren müsse so ablaufen, weil es schließlich um die Verwendung von Steuergeld geht, führt die Sozialdezernentin ins Feld. Richtig, und wiederum auch nicht. Auch die Kreisverwaltung samt Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern finanziert sich aus Steuergeldern. Und ich kann als Steuerzahler den berechtigten Anspruch stellen, wie ein Amt nicht agieren sollte. Denn als Fazit bleibt bei mir: Das hochoffizielle und angeblich alternativlose Behördenschreiben ist herzlos und unmenschlich. Zu einem solchen Behördenhandeln soll und muss es immer eine Alternative geben - auch im Stader Kreishaus!
Tom Kreib
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