Das Einkaufswagen-Märchen: Wenn haarsträubende Geschichten über Flüchtlinge kursieren
Mancher Leser erinnert sich bestimmt an die Spinne in der Yucca-Palme: In den 1970er Jahren verbreitete sich die Geschichte von der Vogelspinne, die den Besitzer der exotischen Pflanze in Angst und Schrecken versetzte, bundesweit. Die Geschichte gilt als Paradebeispiel für urbane Legenden: Jeder, der die Spinnen-Story erzählte, schwor Stein und Bein, das Ganze habe sich bei einem Bekannten zugetragen. Immerhin: Dieses moderne Märchen hat einen gewissen Schmunzelwert. Anders sieht das bei den haarsträubenden Gerüchten aus, die derzeit zum Thema Flüchtlinge kursieren. Da vergeht einem das Lachen. Auch aus Harsefeld kenne ich solche abstrusen Erzählungen.
Da wird beispielsweise die Geschichte herumerzählt, männliche Flüchtlinge hätten die örtliche Ausgabestelle der Tafel überfallartig geplündert. "Absoluter Quatsch", sagt dazu die Leiterin der Tafel in Harsefeld, Christa Wittkowski-Stienen. Nach ihrer Auskunft entbehrt die Behauptung, sie habe die Polizei gerufen und diese sei nicht gekommen, weil solche Straftaten von Flüchtlingen auf Weisung von oben nicht geahndet würden, jeder Grundlage.
Sehr beliebt ist auch die Mär von den Flüchtlingen, die einen vollbepackten Einkaufswagen an der Kasse vorbeischieben - ohne zu bezahlen. In einer Version sagen die Flüchtlinge, als sie von der Kassiererin angesprochen werden: "Kommen aus Syrien, Merkel zahlt." In einer anderen Variante winkt die Dame an der Kasse die Flüchtlinge durch und erklärt einem verdutzten Kunden, die Kosten für die geklauten Waren übernehme wie immer der Landkreis. Eine Anzeige wegen Ladendiebstahls sei nicht erwünscht. Außerdem sollen die Läden wegen angeblicher Randale von Asylbewerbern bereits Wachdienste im Einsatz haben.
Meine Recherche vor Ort ergab: alles Unsinn. Weder bei Rewe noch bei Edeka in Harsefeld haben sich solche Vorfälle zugetragen. Auch Security wurde nie eingesetzt. Doch Harsefeld ist überall. In vielen Orten gehen diese Gerüchte um - nach dem Motto: Die Flüchtlinge klauen die Geschäfte leer, die Politik macht nichts und die Presse schweigt. Früher wurden solche Ammenmärchen an Stammtischen und auf Kaffeekränzchen weitergetragen. Das dauerte seine Zeit.
Im digitalen Zeitalter bedient man sich der sozialen Medien, um Vorurteile zu schüren. Gerüchte werden per Mausklick in Windeseile verbreitet. Ein Blick ins Internet beweist es: An einem Tag spielt die Einkaufswagen-Geschichte bei einem Rewe-Markt in Sachsen, am nächsten Tag bei Aldi in Hessen und Tags darauf bei Edeka in Bayern. So funktionieren eben die modernen Märchen - egal, ob Yucca-Palme oder Einkaufsmarkt: Der Ort der Handlung ist beliebig austauschbar und die Bedrohung kommt aus fernen Ländern. Früher war es die Vogelspinne, jetzt ist es der Flüchtling.
Jörg Dammann
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