"Sie glotzten nur, statt zu helfen": Autofahrer ärgert sich über Gaffer an der Unfallstelle
jd. Harsefeld. Diese Bilder wird Ralph Melkau aus Bremen wohl noch lange im Kopf behalten: Er hält mit seinem Auto vor einer roten Ampel, hat etwa vier oder fünf Pkw vor sich. Plötzlich sieht er einen Körper durch die Luft fliegen: "Es wirkte fast wie eine Puppe." Dann wird ihm klar: Das war ein Mensch. Melkau hört eine Frau entsetzlich schreien. Er lenkt seinen Wagen in die angrenzende Bushaltebucht und eilt nach vorn. Vor ihm liegt ein Mann auf der Straße. Es ist das Unfallopfer, das bei dem Verkehrsunfall am vergangenen Samstag in Harsefeld von einem Auto erfasst wurde und noch an der Unfallstelle seinen schweren Verletzungen erlag (das WOCHENBLATT berichtete). Aber nicht nur der tragische tödliche Unfall wühlt den Bremer auf: "Ich bin entsetzt, dass so viele Gaffer herumstanden, aber niemand bereit war, zu helfen."
Der Radfahrer war an der Fußgängerampel von einem 90-jährigen Autofahrer erfasst worden, der trotz Rot weitergefahren war. Als einziger habe er sich sofort um den schwer verletzten Mann (73) gekümmert, so Melkau. "Keiner der anderen Autofahrer aus den Pkw vor mir hat irgendwelche Anstalten gemacht, Erste Hilfe zu leisten." Diese hätten wie gelähmt herumgestanden: "Ich kann verstehen, wenn jemand zunächst schockiert ist. Aber nach dem ersten Schreck muss man doch reagieren und nicht einfach in Schockstarre verharren."
"Beim nächsten Mal werde ich die Kennzeichen notieren, um Anzeige zu erstatten." - Ralph Melkau ist wütend: Bei dem schweren Verkehrsunfall in Harsefeld musste er die Umstehenden regelrecht anbrüllen, damit diese endlich eine Rettungsdecke und einen Verbandskasten holen. Melkaus Bemühungen waren letztlich erfolglos, der Notarzt konnte nur noch den Tod des verunglückten Radfahrers feststellen. "Aber darum geht es nicht", sagt Melkau: "Helfen muss ich doch immer, egal wie schlimm es um jemanden steht."
Der 51-Jährige hat in seinem Beruf als Kapitän schon einiges erlebt, doch der tödliche Unfall hat ihn mitgenommen: "Es war so entsetzlich viel Blut." Das dürfe aber niemanden davon abhalten, auf irgendeine Weise zu helfen. Wer Probleme damit habe, ein Unfallopfer direkt zu versorgen, könne zumindest unterstützen, indem er beispielsweise eine Decke herbeischaffe. "Das ist in Harsefeld erst passiert, nachdem ich die Gaffer lautstark dazu aufgefordert habe." Erst dann habe auch jemand seinen Verbandskasten "geopfert", um ihm die verlangten Einmalhandschuhe und Mullbinden zu geben.
"Eine deutliche Ansprache ist oft wichtig, um andere Beteiligte aus ihrer Lethargie zu lösen", sagt Polizeisprecher Rainer Bohmbach: Wenn man bemerke, dass die anderen passiv bleiben, sei es gut, selbst die Initiative zu ergreifen und Aufgaben zu verteilen. Dann sei ein "Bitte" fehl am Platz: "Da muss schon eine klare Ansage kommen."
Strafbar ist unterlassene Hilfeleistung allemal: Das Strafgesetzbuch sieht eine Geldstrafe oder sogar Haft bis zu einem Jahr vor. Autofahrer können zusätzlich drei Punkte in Flensburg aufgebrummt bekommen. Gaffer müssen sogar mit zwei Jahren Gefängnis rechnen.
Im Landkreis Stade ist Polizeisprecher Rainer Bohmbach allerdings aus den letzten Jahren kein Fall bekannt, in dem nach einem Unfall eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung erfolgte. "Das heißt aber nicht, dass so etwas nicht vorkommt", so Bohmbach: "Allerdings haben sich die Beamten vor Ort nach einem Verkehrsunfall um wichtigere Dinge zu kümmern, als Beteiligte gezielt zu befragen, ob jemand womöglich nicht geholfen hat."
Mit Gaffern, die die Rettungskräfte an einer Unfallstelle behindern oder den Einsatz sogar mit dem Smartphone filmen, habe es früher häufiger Ärger gegeben, so Dr. Jörn Jepsen, leitender Notarzt im Kreis Harburg: "Seitdem dieses Verhalten strafbar ist und die Polizei rigoros gegen solche Zeitgenossen vorgeht, ist diese Problematik deutlich zurückgegangen. Dass unsere Einsätze auf Youtube zu sehen sind, kommt nicht mehr vor."
Anders sieht es laut Bohmbach bei Bränden aus: "Da mussten wir wiederholt Personen auffordern, den Einsatzort zu verlassen und das Handy einzustecken." Mehr Sorge bereite ihm das Verhalten von Autofahrern bei Absperrmaßnahmen: "Die Leute reagieren zunehmend aggressiv, fahren einfach über den Fußweg oder räumen sogar die Absperrungen beiseite."
Ähnliches weiß der Stader Kreisbrandmeister Peter Winter zu berichten: "Die Einsatzkräfte, die nach einem Unfall den Verkehr regeln, sind nicht zu beneiden. Sie werden ignoriert, beschimpft und geraten sogar in Gefahr, wenn sich Autofahrer die Durchfahrt erzwingen wollen." Dieses rüpelhafte Benehmen habe in den vergangenen Jahren stark zugenommen.
Fälle von unterlassener Hilfeleistung seien aber auch ihm zu Ohren gekommen, so Winter. Sein Appell: "Wer nach einem Unfall hilft, macht nichts verkehrt." Das sieht auch Notarzt Jepsen so: "Alles ist besser, als gar nichts zu machen."
Erste-Hilfe-Kenntnisse auffrischen
Erste Hilfe am Unfallort leisten kann jeder, sagt Kreisbrandmeister Peter Winter. Selbst wenn der für Führerscheininhaber obligate Kursus "lebensrettende Sofortmaßnahmen am Unfallort" schon Jahre oder Jahrzehnte zurückliege: Ein Unfallopfer aus der Gefahrenzone zu holen, einen Verletzten sicher zu lagern oder ihn zu beruhigen - dazu sei jeder in der Lage.
"Das A und O ist natürlich die Überprüfung der Vitalfunktionen", so Winter. Wenn jemand nicht mehr atme, müsse eine Herzdruckmassage mit Beatmung vorgenommen werden. Ansonsten sei die stabile Seitenlage anzuwenden. "Wer nicht mehr genau weiß, wie solche elementare Dinge zu handhaben sind, sollte unbedingt seine Kenntnisse auffrischen", so Winter.
Er rate zu einem achtstündigen Tageskursus, wie er von den Rettungsdiensten meist an Wochenenden angeboten werde. "Die Kursgebühr ist gut investiertes Geld." Schließlich profitiere im Notfall auch die Familie davon. "Viele Unfälle ereignen sich zu Hause und auch bei einem Herzinfarkt ist das Erlernte hilfreich."
Notarzt Dr. Jörn Jepsen geht sogar noch weiter: "Es sollte für alle Autofahrer Pflicht werden, alle fünf bis zehn Jahre einen Erste Hilfe-Lehrgang zu absolvieren." Bei vielen, die bei einem Unfall nur passiv herumstehen würden, stecke gar keine böse Absicht dahinter: "Die Leute haben einfach nur Angst, etwas verkehrt zu machen. Ein Kursus kann diese Furcht nehmen."
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.