Beim "Schnulleralarm" werden Teenagerinnen zu Mamis auf Zeit

Die neun Schülerinnen der Estetalschule mit ihren „Babys“. Begleitet wurde das Projekt von 
Roswitha Linnek-Schmehl von der Diakonie
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    Roswitha Linnek-Schmehl von der Diakonie
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mi. Hollenstedt. Müde reibt sich Alina (16) die Augen, in ihrem Arm liegt ein kleines Bündel, ab und an hört man ein zufriedenes Glucksen. „Die letzte Nacht ist er alle zweieinhalb Stunden aufgewacht und hat nur gebrüllt“, seufzt die Schülerin. Was sich anhört wie aus einer Dramaserie über Teeniemütter, ist in Wirklichkeit ein Präventionsprojekt für Schüler. „Er“ ist kein echtes Kind, sondern ein sogenannter Babysimulator, eine Puppe, die die Bedürfnisse eines Neugeborenen möglichst genau imitiert. Neun Schülerinnen zwischen 15 und 16 Jahren der Estetalschule in Hollenstedt wurden so beim Projekt „Schnulleralarm“ zu Mamis auf Zeit.
Was bedeutet es, für ein Baby verantwortlich zu sein? Welche Bedürfnisse hat ein Säugling? Wie ist der Alltag mit einem Baby? Mit dem Präventionsprojekt „Schnulleralarm“ des Diakonischen Werks der Kirchenkreise Hittfeld und Winsen sollen Jugendliche genau diese Erfahrungen machen. „Viele Kinder wachsen als Einzelkinder auf. Sie haben überhaupt keine Möglichkeit, vor dem eigenen Kind Erfahrungen zu sammeln“, sagt Roswitha Linnek-Schmehl vom Diakonischen Werk. Deutlicher wurde Lehrerin Brigitte Bretschneider: „Wir als Schule wollen mit dem Projekt die Botschaft vermitteln: Werdet nicht zu früh schwanger. Macht euren Abschluss und eine Ausbildung, bevor ihr ein Kind bekommt“, erklärte die Pädagogin.
Wie wichtig diese Prävention ist, zeigt die Statistik: Neun von 1.000 Neugeborenen werden in Deutschland demnach von minderjährigen Müttern zur Welt gebracht. Zum Vergleich: in den Niederlanden sind es nur vier. In Großbritannien über 20. Alarmierender ist aber, dass rund 57 Prozent der Mütter unter 25 Jahre hierzulande über keinen oder einen nur sehr geringen Bildungsabschluss verfügen. Ebenfalls belegt die Statistik, dass das Armutsrisiko für Alleinerziehende deutlich höher ist.
Vier Tage und drei Nächte bekamen die Schülerinnen die Verantwortung für ihr „Baby“ übertragen. Die drei Kilo schweren Puppen wollen - wie echte Babys - mit der Flasche gefüttert, gewickelt und gewiegt werden, sie wachen nachts auf und schreien, sie sind mal nörgelig, mal zufrieden. Ein integrierter Computer registriert, wie gut die Bedürfnisse erfüllt werden. Auch ob das „Kind“ geschüttelt oder falsch angefasst wurde, alles wird aufgezeichnet. Die Ergebnisse werden mit den Schülerinnen gemeinsam ausgewertet. „Bisher haben sich die Mädchen als Vorzeigemütter erwiesen“, sagt Roswitha Linnek-Schmehl. Sie begleitet die Schülerinnen während des ganzen Projekts. Dazu gehört auch eine nächtliche Rufbereitschaft. Denn genau wie bei einem echten Kind lässt sich das Schreien der Puppen nicht leiser drehen und nur abstellen, wenn die Bedürfnisse des „Babys“ erfüllt sind. „In anderen Gruppen hatte ich schon völlig verzweifelte nächtliche Anrufe, weil Teilnehmerinnen ihr Baby nicht beruhigen konnten“, erzählt sie.
Begleitend zur Elternschaft auf Probe informiert eine Hebamme die Jugendlichen über Schwangerschaft und Geburt. Auch das Thema Verhütung wird mit den Teilnehmerinnen besprochen.
Die Schülerinnen erlebten die Zeit mit ihrem Baby unterschiedlich. Erschreckend fand Alina (16), mit wie viel Unverständnis die Umwelt auf die „Babys“ reagiert. „Ein Busfahrer hat mich erst aufgefordert ‚das‘ leiser zu stellen, dann wollte er mich aus dem Bus werfen“, so die Schülerin. „Ich habe mir einmal auch Hilfe von meiner Mutter geholt, ich hatte Angst, das Kind falsch anzufassen“, sagt Aylin (15). Svenja (15) und Anouk (16) fanden es erstaunlich, wie man sich mit dem „Baby“ identifiziert. „Man beginnt mit dem Kind zu sprechen, unser Baby heißt Nevell-Noah“. In einem waren sich aber alle Mamis auf Zeit einig: Ein Baby ist ein Vollzeitjob, der keine Zeit mehr für anderes lässt. Jetzt ein echtes Kind zu bekommen, dass konnte sich keines der Mädchen vorstellen.

Redakteur:

Mitja Schrader

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