"Das tut meiner Seele gut"
Ellen Kühn vom Verein Lebenshilfe Landkreis Harburg über ihr Verdienstkreuz und Erfolge der Inklusion
ce. Hollenstedt. "Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben", sagt der Volksmund. Würde man den Satz wörtlich nehmen, müsste Ellen Kühn (64) aus Hollenstedt eine Respekt einflößende Riesin ein. Die Mutter einer schwerst-mehrfachbehinderten Tochter ist jedoch eine herzensgute Frau, deren ehrenamtlicher Einsatz für Gehandicapte insbesondere im Verein Lebenshilfe Landkreis Harburg jetzt mit dem Niedersächsischen Verdienstkreuz am Bande belohnt wurde. Im "Interview der Woche" sprach WOCHENBLATT-Redakteur Christoph Ehlermann mit Ellen Kühn über die Motivation für ihr Engagement und darüber, inwieweit der Inklusionsgedanke heute erfolgreich umgesetzt wird.
WOCHENBLATT: Frau Kühn, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Verdienstkreuz. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Ellen Kühn: Diese Ehrung ist wie eine Streicheleinheit, sie tut mir und meiner Seele gut. Bei allem, was ich ehrenamtlich mache, bin ich die größte Gewinnerin. Es macht mich zu dem, was und wie ich heute bin. Nirgends habe ich mehr gelernt als in den Ehrenämtern. Die wertvollsten Menschen in meinem Leben habe ich durch meinen ehrenamtlichen Einsatz getroffen und als sehr gute Freund*innen gewonnen.
Die Zufriedenheit in und mit meinem Leben verdanke ich neben meiner Tochter Daniela gerade dem freiwilligen Engagement – eigentlich bedürfte es keines Ordens mehr.
WOCHENBLATT: Was veranlasste Sie, sich ab 1999 im Verein Lebenshilfe Landkreis Harburg zu engagieren und dort Vorsitzende zu werden?
Kühn: Das waren Dankbarkeit und Pflichtgefühl. Dankbarkeit dafür, dass es Eltern gab, die mit viel Einsatz dafür gesorgt haben, dass es für Kinder und Jugendliche mit Behinderung Angebote wie Kindergarten, Schule, Werkstatt und Wohnstätten gibt. Alles Dinge, die ich - anfangs ohne darüber nachzudenken - ganz selbstverständlich für meine Tochter in Anspruch genommen habe.
WOCHENBLATT: Und welche Rolle spielte das Pflichtgefühl?
Kühn: Aus Pflichtgefühl engagiere ich mich, weil wir nicht nur nehmen, sondern auch wieder etwas zurückgeben sollten. Seinerzeit hatte der Vorstand des Vereins unter Vorsitz von Bernd Beiersdorf angekündigt, nach über 20-jähriger Tätigkeit die Verantwortung geschlossen abzugeben und diese in neue, jüngere Hände zu legen. Ich hatte mich im Rahmen meines Studiums der sozialen Arbeit gerade intensiv mit dem Vereinsrecht auseinandergesetzt und wurde von einer guten Freundin sozusagen in diese Aufgabe "geschubst“.
Das Problem, Nachfolger für diese Aufgabe zu finden, gibt es heute übrigens immer noch, um nicht zu sagen mehr denn je. Heute werden alle vorhandenen Angebote als normal empfunden und "konsumiert“ - die Wertschätzung für die Kraft und Energie, die die Eltern einst dafür aufbringen mussten, ist kaum noch vorhanden und eine Mitgliedschaft im Verein ist für die „jungen“ Eltern meist kein Thema.
WOCHENBLATT: Wie kooperieren der Verein Lebenshilfe Landkreis Harburg und die gemeinnützige Lebenshilfe Lüneburg-Harburg GmbH?
Kühn: Es ist den Menschen leider viel zu wenig bekannt, dass der Verein einer der beiden Gesellschafter der GmbH ist, die als "Firma“ der Vereine die ganzen Angebote für Menschen mit Behinderung vorhält. Somit sind die Vereinsmitglieder sozusagen alle "Miteigentümer“ dieser Firma. Über diese Struktur ist die Lebenshilfe unter den sozialen Verbänden der einzige Anbieter, bei dem Eltern eine Mitsprache- und Mitgestaltungsmöglichkeit haben.
WOCHENBLATT: Ihre schwerst-mehrfachbehinderte Tochter Daniela wurde 1981 geboren. Später nahmen Sie einen ebenfalls schwerbehinderten Mitschüler von ihr in Ihre Familie auf. Wie kam es dazu? Und was gibt Ihnen die Kraft für Ihr bis heute andauerndes Engagement?
Kühn: Meine Tochter konnte mir nicht über ihre Erlebnisse und Begegnungen berichten. Also war es für mich nur selbstverständlich, dass ich mich dahin begebe, wo diese für meine Tochter stattfanden – erst war es der Kindergarten am Buenser Weg, später dann die Schule an Boerns Soll in Buchholz. Als geklärt war, dass ich nicht zum "Kontrollieren“ komme, entwickelte sich eine für meine Tochter unsagbar förderliche Zusammenarbeit, und es entstand eine menschliche Bindung zu ihrem Klassenkameraden. Als für diesen eine Lösung benötigt wurde, war schnell klar, dass eine Aufnahme als Pflegekind zumindest den Versuch wert ist.
Ohne die gute Zusammenarbeit mit den Lehrer*innen und Erzieher*innen der Schule und die Unterstützung durch meine Familie, Freunde und damals noch Zivis wäre diese Herzensaufgabe nicht so erfolgreich zu bewältigen gewesen. Die positive Entwicklung meines Pflegekindes und die Zufriedenheit meiner Tochter waren und sind meine Kraftspender.
WOCHENBLATT: Inwieweit ist heute aus Ihrer Sicht die Inklusion bzw. die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben gelungen?
Kühn: Die Umsetzung der Inklusion als gelungen zu bezeichnen, halte ich für verfrüht. Ein Anfang ist aber gemacht, und es geht stetig weiter. Um von einem Gelingen sprechen zu können, braucht es noch viele Kraftanstrengungen, um die Haltungen der Menschen ohne Behinderung gegenüber denen mit Behinderung zu verändern. Das ist eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft. Erst wenn es keinen Unterschied mehr macht, ob ein Mensch behindert ist oder nicht, ist Inklusion für mich gelungen.
Allein der allgemeine Sprachgebrauch macht deutlich, wie weit wir noch davon entfernt sind: Es wird hinlänglich immer noch von den "Behinderten“ gesprochen und nicht von dem "Menschen mit Behinderung“.
Die Videos "Mitmenschen“, "Mitbestimmung“ und "Mit Unverständnis“, die wir zum Gleichstellungstag am 5. Mai in Winsen, Buchholz, Tostedt und Lüneburg vorgestellt haben und die unter www.lhlh.org anzusehen sind, machen deutlich, wo und wie groß die Kluft noch ist.
WOCHENBLATT: 2009 riefen sie die Stiftung "Die Stifter für Menschen mit Handicap in der Region“ ins Leben. Welche Erfolge hat die Initiative seitdem erzielt?
Kühn: Die Anlaufphase der Stiftung war sehr schleppend, aber gerade in jüngster Zeit nimmt sie durch neue und hochmotivierte Menschen in der Geschäftsführung der Stiftung "an Fahrt auf“. Derzeit wird ein Projekt entwickelt – unterstützt und gefördert durch die Aktion Mensch -, welches sich der Geschwisterkinder von Kindern mit Behinderung annimmt. Bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit Behinderung, die in einer eigenen Wohnung leben können und wollen, ist sehr schwer zu finden. Deshalb ist ein weiteres Ziel der Stiftung, diesen zu schaffen.
WOCHENBLATT: Wobei entspannen Sie am besten?
Kühn: Kaum zu glauben, aber wahr: beim Nichtstun. Aber ich genieße es ebenso, bei einem Glas Wein und einem guten Gespräch mit lieben Menschen aus meinem Umfeld zusammen zu sein. Außerdem koche und esse ich leidenschaftlich gern, am liebsten ebenfalls für und mit mir lieben und wichtigen Menschen.
WOCHENBLATT: Frau Kühn, vielen Dank für das Gespräch.
Redakteur:Christoph Ehlermann aus Salzhausen |
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