Zu Fuß durch Europa
Mütze aus Grünendeich ist Weihnachten in England
sla/nw.Portsmouth/England. Trotz Brexit und Corona hat er es geschafft. Soeben ist Karsten Rinck, vielen auch als "Mütze" bekannt, dank Mitfahrgelegenheit von Frankreich nach England und zweitägiger Quarantäne in der englischen Küstenstadt Portsmouth angekommen. Das WOCHENBLATT sprach mit ihm kurz nach seiner Ankunft auf englischem Boden und wollte wissen: Wie geht es ihm als Vagabunden? "Ich habe mich verändert", sagt der Altländer, der, wie berichtet, zusammen mit seinem Hund Lotte vor über sieben Monaten sein gewohntes Umfeld, seinen Beruf und seine Komfortzone in Grünendeich verlassen hatte, um zu Fuß Europa zu durchqueren. Hier sein ausführlicher Bericht:
"Wenn man mich heute fragt, wie es sich nach dieser langen Zeit anfühlt, dassich meine Heimat verlassen habe: Ich bin absolut nicht mehr der Mensch, der ich mal gewesen bin, als ich am 1. Mai dieses Jahres von der Hogendiekbrücke in Steinkirchen aus aufgebrochen bin, um den europäischen Kontinent zu Fuß zu erkunden. Mittlerweile bin ich über sieben Monate unterwegs. Habe mehr als dreitausend Kilometer hinter mich gebracht - und das vierte Paar Schuhe trägt mich jetzt durch die Lande. Vor Kurzem noch habe ich am Ufer des Ärmelkanals bei Ouistreham in Frankreich gestanden. Tschechien, die Niederlande, Belgien, Luxemburg und eben Deutschland habe ich bereits durchlaufen. Dabei gab es unzählige Begegnungen mit den verschiedensten Charakteren. So manchen Abend habe ich mit Menschen verbracht und mit ihnen über das Leben gesprochen. Über das Geordnete in einem Großteil der Gesellschaft - und dass man hier und da vielleicht seinem eigenen Wahnsinn mehr Freilauf geben sollte. Es gibt so viel zu sehen, zu erleben. Was ich aus diesen Momenten mitgenommen habe? Andere Perspektiven. Alternativen. Und auch ich habe hier und da Eindruck hinterlassen. Das am Morgen nicht wissen, wo man am Abend ankommt, wo man schläft und wie man schläft: wie ein König oder wie ein Bettler? Das können viele nicht so ganz begreifen. Warum quälst du dich heute noch so, wurde ich einmal gefragt. Zumal jetzt ja auch die kalte Jahreszeit herrscht. Dann einfach nur in einer Scheune oder vielleicht sogar nur in einem Bushäuschen zu liegen ...
Es erzeugt Demut bei einem Selbst - und bei dem einen oder anderen Respekt, vielleicht auch ein bisschen Neid. Es gibt so viele, die sich etwas mehr Mut im Leben wünschen. Viele berichteten mir von Ängsten, die sie abhalten würden. Dabei vergessen viele, dass Ängste Gedanken sind. Gedanken zu Ereignissen, die es so noch gar nicht gibt. Unser Verstand stellt sich die Dinge vor, die schiefgehen könnten. Ob das wirklich passiert? Das kann niemand sagen. Und das bremst viele aus. Mein Motto lautet, positiv bleiben. Egal, wie schwer es ist. Wenn ich das geschafft habe, dann schaffe ich es morgen auch, sage ich mir immer.
So ziehe ich als Wanderer Mut aus den vielen kleinen schönen Momenten meiner Reise. Sei es das Zwischenmenschliche oder das Landschaftliche. Es gibt immer etwas, das einen mit Freude und Zuversicht erfüllt. Man muss nur die Augen offenhalten. Sei es der Schmetterling, der den Weg kreuzt. Oder die kleine Quarzader indem Stein, der einem auf dem Weg auffällt. Man beginnt tatsächlich wieder, Steine vom Boden aufzuheben. Fängt an, sie von allen Seiten zu betrachten. Man entdeckt wieder das Kind in sich. Ich bin zeitloser geworden. Den Wecker benötige ich längst nicht mehr. Es ist schon verrückt, wie sich der Körper wieder an instinktive Verhaltensmustererinnert. Wenn die Sonne untergeht, werde ich müde, und wenn der erste Vogel anfängt zu singen, dann geht es los in den neuen Tag. Auch mein Laufverhalten hat sich der Jahreszeit angepasst. Dieser Tage mache ich weniger Pausen während der Etappen. Habe ich im Sommer nach wenigen Kilometern immer mal innegehalten, geht es jetzt quasi in einem Rutsch zum angepeilten Etappenziel, das aber fast nie wirklich feststeht. Es ist ein Richtwert. Ob ich nach England kommen würde, war nicht ganz klar, als ich in Frankreich war. Es hing davon ab, ob man mich auf die Fähre lassen würde. Denn als Fußgänger darf ich weder schweres Gepäck noch ein Haustier dabeihaben. Ich musste einen Autofahrer finden, der mich und Lotte mitnimmt, um mir bei meiner Reise zu helfen. In Zeiten von Corona nicht ganz einfach."
Doch Mütze hatte Glück. Er fand eine Mitfahrgelegenheit und auf der Fähre lernte er einen Fahrgast kennen, der ihn für die ersten Tage in England aufnahm. Weihnachten wird er irgendwo in Großbritannien verbringen. Danach geht es weiter nach Schottland und Wales - so weit die Füße tragen. Im Sommer will Mütze dann nach Irland - und sich auf jeden Fall zwischendurch wieder beim WOCHENBLATT melden. Bis dahin wünscht ihm das WOCHENBLATT-Team frohe Weihnachten und alles Gute für seine abenteuerliche Reise.
Redakteur:Susanne Laudien aus Buxtehude |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.