Afghanen fürchten um ihre Familien
Auf der Todesliste der Taliban

Hussain A. verfolgt besorgt die Berichte über den Taliban-Vormarsch | Foto: bim
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(bim). Die islamisch-fundamentalistischen Taliban reißen in erschreckendem Tempo die Macht in Afghanistan an sich, tausende Afghanen sind auf der Flucht, riskieren ihr Leben, um mit einer amerikanischen Militärmaschine außer Landes gebracht zu werden. Die dramatischen Ereignisse in Afghanistan, auf die die Welt dieser Tage schaut, bezeichnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als "menschliche Tragödie, für die wir Mitverantwortung tragen". Andere finden drastischere Worte und benennen das "außenpolitische und moralische Versagen des Westens" wie CDU-Außenexperte Norbert Röttgen. Hinter den erschütternden Bildern stecken unzählige menschliche Schicksale, wie das des 38-jährigen Journalisten und Menschrechtsaktivisten Hussain A.* aus Buchholz.
"Ich stehe auf der Todesliste der Taliban", sagt er. Hussain A. arbeitete neun Jahre lang für die Deutsche Welle in Kabul. Bereits seit 2014 bekomme er wegen seiner aufklärenden Berichterstattung monatlich Droh-Anrufe der Taliban. "2018 berichtete ich über die Nationalversammlung der Mullahs und deren Aussage, dass der Krieg in Afghanistan kein islamischer Krieg sei und die Taliban alles gegen den Islam machten. Da erklärten mir die Taliban: 'Ab jetzt sollst du sterben'", berichtet er.
Angst um die Familie
in Afghanistan

Vor rund zwei Jahren kam er im Zuge seiner journalistischen Arbeit nach Deutschland und entschied sich aus Angst um sein Leben, nicht nach Afghanistan zurückzukehren. Seine Frau und seine fünf Kinder - vier Töchter und ein Sohn im Alter von acht bis 18 Jahren - bangen dort jetzt um ihr Leben, verstecken sich in der Wohnung und hoffen, in eines der westlichen Flugzeuge zu gelangen. Dank Unterstützung der Organisation "Pro Asyl" und einer Flüchtlingshelferin aus Buchholz haben sie pakistanische Visa, Geld für Flugtickets und stehen auf der Ausreiseliste des Außenministeriums. Dennoch ist allein der Weg zum Flughafen ein lebensgefährliches Risiko. Denn beim ersten Versuch am Mittwoch brauchte die Familie sieben Stunden zum Flughafen, ständig begleitet von der Furcht, von den Taliban erwischt zu werden. Am Flughafen herrschte dann wegen der tausenden Afghanen, die fliehen wollen, totales Chaos. "Die amerikanischen Soldaten schossen in die Luft, um die Menschenmengen abzuhalten", habe seine Frau ihm geschildert, die sich mit den Kindern vor lauter Angst wieder auf den Heimweg machte. "Ich schickte eine E-Mail ans Außenministerium. Man sagte, es könnten nur noch Deutsche zum Flughafen kommen", sagt der 38-Jährige. "Es gibt eine große Unsicherheit, aber keine Ansprechpartner. Meine Familie ist in großer Gefahr." 
Leben unter der
Taliban-Herrschaft

Hussain A. berichtet, wie die Situation unter einer Taliban-Herrschaft ist. "Das ist wie ein Leben auf einem Friedhof. Frauen haben keine Rechte, sollen ihren Männern gehorchen. Niemand darf zur Schule gehen", sagt der 38-Jährige. In den vergangenen Jahrzehnten sei durch den NATO-Einsatz viel erreicht worden. Doch der jetzige Truppenabzug der Westmächte sei nicht in Ordnung und verfrüht. Denn offenbar haben diese die afghanischen Strukturen mit ihren verschiedenen Ethnien auch nach all den Jahren nicht wirklich durchschaut (siehe unten).
"Im Jahr 2000 kamen die Taliban in unseren Landkreis, da war ich in der Schule. Die Taliban sagten, es darf keine Physik, Musik, Chemie, Biologie mehr im Unterricht geben, nur noch Religion. Die Taliban können kämpfen, aber nicht regieren. Mehr als 90 Prozent von ihnen sind Analphabeten, die nur die Koranschule besucht haben. In einer Regierung braucht man aber auch viele ausgebildete Leute, die die Taliban nicht haben", sagt Hussain A.
Millionen Kinder konnten
in die Schulen

Vor 20 Jahren sei Afghanistan ein Land ohne Regierung und Kabul zerstört gewesen. "Dann kam der USA- und NATO-Einsatz. Wir konnten neun Millionen Kinder in die Schulen schicken. Es gab Universitäten und eine Regierung mit allen Ministerien. Auch Frauen waren im Parlament und konnten studieren, Männer und Frauen hatten gleiche Rechte. Es war nicht alles in Ordnung, aber eine korrupte Regierung ist besser als keine", ist Hussain A. überzeugt.
Sein Vater war Bauer und Analphabet und habe ihm immer geraten, zur Schule zu gehen. Das tat Hussain A. und studierte später Journalismus. "Ich habe mir auch immer für meine fünf Kinder gewünscht, dass sie eine gute Schule und Universität besuchen. Meine Töchter haben Träume", sagt Hussain A. Zwei Töchter würden gerne Wirtschaftswissenschaften studieren, eine Tochter möchte Zahnärztin werden und eine in die Politik gehen, während der achtjährige Sohn sich für Autos und große Traktoren interessiere.
"DieTaliban verschleppen
und töten Menschen"

Außer der Machtübernahme durch die Taliban sei problematisch, wenn man ihren öffentlichen Aussagen nun Glauben schenke. "Die Taliban sagen, wir nehmen niemanden fest, und gehen dann nachts in die Häuser und holen die Menschen dort weg", erzählt Hussain A. Während die Öffentlichkeit wegen der internationalen Journalisten vor allem auf Kabul schaue, würden die Taliban in den umliegenden Städten und Dörfern Menschen verschleppen und töten.
Das berichtet auch Ibrahim K.* (25) aus Masar-e Scharif. Er flüchtete 2018 aus Afghanistan, weil die Taliban ihn an die Waffen zwingen wollten. Er fürchtet in Afghanistan um seine Eltern und seine drei Brüder im Alter von 18, 20 und 28 Jahren. Der Älteste sei zudem Polizist. Alle würden sich jetzt versteckt halten. Ibrahim K.s Vater, ein Landwirt, sei vor 22 Jahren von den Taliban für rund zwei Jahre gefangen genommen, ins Gefängnis gesteckt und später in Kandahar zum Arbeiten gezwungen und geschlagen worden. "Wir sind Hazara, können in Afghanistan nicht sicher leben", erläutert der 25-Jährige. Erst durch die internationale Hilfe sei sein Vater freigekommen. Vor einem Jahr seien zwei seiner Mitschüler von den Taliban getötet worden, weil sie sich weigerten, den Taliban Geld zu geben oder ihnen an die Waffen zu folgen.
"Der Präsient hat
unser Land verkauft" 

"Unser Präsident hat unser Land an die Taliban verkauft, die afghanische Armee zum Rückzug aufgefordert und ihnen gesagt, sie sollen ihre Waffen abgeben. Der Präsident ist ein Talib mit Krawatte, die anderen mit Turban", meint Ibrahim K. Denn der geflohene Präsident Ashraf Ghani gehöre ebenso wie die Taliban zur Ethnie der Paschtunen.
"Ich habe Angst, es sind schon so viele Menschen getötet worden", sagt Ibrahim K. Er weiß nicht, wie er seine Familie aus Afghanistan bekommen soll, da er weder Kontakte noch Geld hat. "Die Welt muss helfen", fordert er.
* Name geändert

Warum hat die afghanische Armee nichts entgegengesetzt?

Warum hat die afghanische Armee dem Vormarsch der Taliban nichts entgegengesetzt? - Diese Frage stellt sich nach 20-jährigem NATO-Einsatz und Milliarden-Investitionen in Afghanistan und die Ausbildung der dortigen Truppen. Hussain A. nennt dafür drei Gründe als Erklärung:
Korruption: "Es wurden bei der Anzahl der afghanischen Soldaten falsche Zahlen genannt, zum Beispiel 20.000 statt der tatsächlich nur 1.000 Soldaten, und die dafür gezahlten Gelder in die eigene Tasche gesteckt."
Ausbleibende Unterstützung: Nachdem die westlichen Streitkräfte abgezogen wurden, hätten die afghanischen Soldaten zuletzt praktisch gehungert und teilweise nicht mal mehr vernünftiges Schuhwerk gehabt. Wie Medien berichten, seien außerdem die zurückgelassenen Hightech-Waffen aufgrund mangelnder Stromversorgung gar nicht einsetzbar gewesen, es habe keinen Treibstoff und keine Munition gegeben.
"Seilschaften": Es gibt in Afghanistan mehrere ethnische Gruppen oder Stämme. Die Regierenden gehörten der gleichen Gruppe wie die Taliban, den Paschtunen, an und hätten ihnen zugespielt.

Nur ein paar der vielen Ethnien

In Afghanistan gibt es unterschiedliche Ethnien oder Stämme, u.a.:
Paschtunen: historisch „Afghanen“, sind die Begründer und Namensgeber des Landes. Sie machen etwa 40 Prozent der Bevölkerung aus.
Tadschiken: sind mit etwa 27 Prozent die zweitgrößte Gruppe des Landes. „Tadschik“ ist eine generelle Bezeichnung der persischsprachigen Bevölkerung in Afghanistan. Sie bilden die Mehrheit in den meisten Städten. Der Begriff „Tadschik“ wird meist von anderen als Sammelname für Bevölkerungsgruppen verwendet, die keiner Stammesgesellschaft angehören, Persischsprecher und zumeist sunnitischen Glaubens sind.
Hazara: sind ebenfalls persischsprachig, jedoch größtenteils schiitischen Glaubens und mongolischer Abstammung. Sie stellen etwa neun Prozent der Bevölkerung. Aufgrund ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit wurden und werden sie in Afghanistan diskriminiert, verfolgt und gezielt getötet.
Usbeken: eines der vielen Turkvölker Zentralasiens, stellen etwa neun Prozent der Bevölkerung.
• Quelle: wikipedia

Adressen für Ausreisewillige

Für Ortskräfte deutscher Organisationen und Afghanen mit deutschem Aufenthaltstitel hat das Auswärtige Amt eine E-Mail-Adresse eingerichtet, bei der man Fälle melden kann: 040.krise19@diplo.de, Tel. 0049 (0)30-1817-1000 oder 00 49 (0)30-5000-1000.
Laut dem Flüchtlingsrat Niedersachsen besteht eventuell die Möglichkeit, ein Visum für Indien online zu beantragen unter MEAHelpdeskIndia@gmail.com.

Aufnahme afghanischer Ortskräfte

os. Buchholz. Die Stadt Buchholz soll sich bereit erklären, einen Teil der geretteten Ortskräfte aus Afghanistan aufzunehmen und dafür offizielle Hilfe beim Bundesinnenministerium anzumelden. Dafür spricht sich Bürgermeisterkandidat Frank Piwecki (SPD) aus.
Hintergrund: Seit Kurzem sei die Stadt Buchholz Mitglied im sogenannten "Bündnis sicherer Hafen", das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschenleben zu retten. Die Stadt solle diesem Auftrag schleunigst nachkommen, so Piwecki: "Bei den Ortskräften müssen alle zu ihrer zugesagten Verantwortung stehen."
• Niedersachsen stellt für die Aufnahme afghanischer Ortskräfte und deren Familienangehörige mindestens 450 Unterbringungsplätze bereit. Das teilte das niedersächsische Innenministerium am Mittwoch mit. Ob und wie viel davon dem Landkreis Harburg zugewiesen werden, steht noch nicht fest.

Die Grünen hatten Aufnahme afghanisher Ortskräfte im April 2019 gefordert

(bim). "Einer schiebt die Schuld auf den anderen", kommentiert der in Buchholz lebende Afghane Hussain A. den Abzug der internationalen Truppen und die daraus resultierende Katastrophe mit dem unaufhaltsamen Vormarsch der Taliban. Das Tempo, so gestand Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), habe alle überrascht. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) räumten ein, die internationale Gemeinschaft habe die Lage in Afghanistan falsch eingeschätzt und ihre Ziele bei dem Einsatz nicht erreicht.
Bei der viel zu späten Evakuierung von Deutschen und Ortskräften aus Afghanistan weisen indes die Ministerien und der Bundesnachrichtendienst die Schuld von sich. Dabei hätte eine politische Entscheidung früher getroffen und mit mehr Vorlauf umgesetzt werden können.
Der Bundestag hatte am 23. Juni einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen von April 2019 abgelehnt, in dem die Fraktion gefordert hatte, ein Gruppenverfahren zur „großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte einzuführen, die für deutsche Behörden und Organisationen arbeiten oder gearbeitet haben.“ Die Koalitionsfraktionen und die AfD lehnten den Antrag allerdings ab, die Linksfraktion stimmte mit den Grünen dafür, die FDP enthielt sich.

Hussain A. verfolgt besorgt die Berichte über den Taliban-Vormarsch | Foto: bim
"Das ist meine Heimat", sagt Ibrahim K. und schaut auf ein Foto von Masar-e Scharif. Er macht sich große Sorgen um seine Familie | Foto: bim
Redakteur:

Bianca Marquardt aus Tostedt

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