Fünf Jahre Museumsdirektor
Wie Stefan Zimmermann das Freilichtmuseum am Kiekeberg bewahrt und neu erfindet
Am Dienstag, 1. November, wird Stefan Zimmermann das Freilichtmuseum am Kiekeberg seit exakt fünf Jahren leiten. Eine turbulente Zeit, in der bisher nie gekannte Krisen der populären Kultur-, Bildungs-, Forschungs- und Veranstaltungsstätte im Landkreis Harburg zusetzen: die Corona-Pandemie, Energiepreise auf Rekordniveau und Fachkräftemangel. WOCHENBLATT-Redakteur Thomas Sulzyc traf den 43 Jahre alten Historiker und die kaufmännische Geschäftsführerin Carina Meyer zu einem Gespräch in der Kulisse der Königsberger Straße, das Bau- und Forschungsprojekt zur Zeitgeschichte, mit dem sich das Museum neu erfindet.
Wie hat sich das Museum entwickelt?
Das Freilichtmuseum am Kiekeberg hat seine Bedeutung als Bildungsort ausgebaut. "Wir verknüpfen unsere vielfältigen pädagogischen Angebote mit Themen, die Menschen heute bewegen", sagt Stefan Zimmermann. Ernährung zum Beispiel. Besucher und Besucherinnen lernen Techniken der Lebensmittelkonservierung. Das Dörren, Einkochen und Fermentieren erleben in der Energiekrise eine Renaissance. Bei Ernährungsangeboten kooperiert das Museum beispielsweise auch mit hiesigen Landfrauenvereinen.
Nachhaltiges Bauen ist eine Antwort auf die Folgen des globalen Klimawandels. Das Bau- und Forschungsprojekt "Königsberger Straße" versetzt die Menschen zwar in die 1950er und 1960er Jahre der jungen Bundesrepublik Deutschland, aber Kenntnisse zum historischen Bauen mit Lehm, Stroh und Holz sind heute aktuell wie nie. Im Jahr 1955 hätte sich das niemand vorstellen können. "Nach dem Krieg sahen Menschen ein Haus aus Holz als Baracke an", sagt Stefan Zimmermann.
Das Museum hat als Reaktion auf die Corona-Pandemie seine Veranstaltungskultur angepasst und die Zahl der Großveranstaltungen geringfügig reduziert. Stattdessen bietet es Besucherinnen und Besuchern an jedem Wochenende kleine und mittelgroße Formate wie zum Beispiel Führungen.
Was wird neu?
Das Programm "Gelebte Geschichte" wird ausgebaut. In gespielten Szenen vermitteln Darsteller in der Kulisse des Museums die Alltagskultur einer vergangenen Zeit. "Wir werden den Alltag der Nachkriegsjahrzehnte anschaulich machen", sagt Stefan Zimmermann. Figuren in der Kulisse der Königsberger Straße könnten ein Tankwart (heute ein ausgestorbener Beruf) oder ein Postbote sein. In der Telefonzelle, dem gelben Modell der Deutschen Post, könnten Besucher und Besucherinnen Anrufe tätigen und eine aufgenommene Sprachantwort als Antwort erhalten. Die Telefonzelle ist ein sehr gutes Beispiel für die rasche Musealisierung des Alltags. "Jugendliche fragen, ob es damals tatsächlich Telefonbücher gegeben hat, in denen Namen, Adressen und Telefonnummern öffentlich einsehbar waren. Sie sehen darin den Datenschutz verletzt", erzählt Stefan Zimmermann. Alle Szenen der "Gelebten Geschichte" müssen auf wissenschaftlichen Quellen beruhen. "Wir wollen uns nicht den Ruf als Disneyland einhandeln."
Folgen der Corona-Pandemie und Energiekrise
In dem Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie verzeichnete das Freilichtmuseum am Kiekeberg einen Besucherrekord: 245.000 Menschen waren es im Jahr 2019. Öffnungsverbote und Abstandsregeln während der Pandemie zeigten Folgen: Im Jahr 2021 besuchten lediglich 115.000 Menschen das Museum. In diesem Jahr wird die Besucherzahl voraussichtlich 87 Prozent des Rekordjahres erreichen. "2023 könnte eigentlich ein gutes Jahr werden", sagt Carina Meyer. Dann feiert das Museum 70-jähriges Bestehen.
Doch Inflation und hohe Energiepreise trüben die Aussicht. Das Museum heizt mit Gas und Fernwärme, die vermutlich ebenfalls auf Gas zurückgeht. Carina Meyer erwartet eine Verdreifachung der Kosten für Energie, schlimmstenfalls bis zu 500.000 Euro Mehrkosten. "Das wäre dann ein sehr herausforderndes Haushaltsdefizit", sagt sie.
Der Fachkräftemangel ist mittlerweile auch ein Problem des Museumsbetriebs. Aufsichtskräfte werden gesucht, auch ein Bäcker.
Das Museum verhandelt mit dem Landkreis über Geld
Die Aufnahme von geflüchteten Menschen, Inflation, Energieknappheit - vor denkbar ungünstigsten Krisenszenarien verhandelt derzeit das Freilichtmuseum am Kiekeberg mit dem Landkreis Harburg über einen neuen Zukunftsvertrag. Die Laufzeit des bisherigen Zukunftsvertrages endet nach zehn Jahren Ende 2023. Dieses Papier regelt die Höhe der Zuschüsse, die das Museum vom Kreis erhält.
Das Freilichtmuseum am Kiekeberg hat Mehrbedarfe formuliert und begründet diese vor allem mit einer strukturellen Herausforderung bei der Entlohnung der Belegschaft. Eine zukunfts- und wettbewerbsfähige Entlohnung müsse gewährleistet werden. Sonst drohe letztlich der Verlust von Mitarbeitenden an finanzstärkere Kultureinrichtungen in Hamburg. 70 Angestellte, rund 30 Honorarkräfte und 360 ehrenamtliche Helfer sind am Museum tätig.
Das Freilichtmuseum versteht sich als Markenbotschafter des Landkreises Harburg, sei fest in der Region verwurzelt und entfalte gleichzeitig überregionale Strahlkraft. Allein 700 Schulklassen besuchen es im Jahr, dazu Touristen. "Der Landkreis profitiert auf vielfältige Weise auch von unserer Arbeit", sagt Carina Meyer.
Die Bedeutung von Freiluftmuseen
Stefan Zimmermann hat sich vor wenigen Wochen in Schweden mit 120 anderen Museumsdirektoren von Freilichtmuseen in Europa getroffen. Ihre gemeinsame Überzeugung: Kein anderer Museumstyp erreiche die Breite der Gesellschaft und die Bevölkerung in ihren Bedürfnissen mehr als das Freilichtmuseum. Die Themen Ernährung, Nachhaltigkeit, Landwirtschaft, Migration und Baukultur seien von hoher gesellschaftlicher Bedeutung. Sinnliche Erlebnisse erzeugten starke Bindungen. Stefan Zimmermann schwärmt: "Bei uns können Menschen ein Holzfeuer riechen, Hafergrütze schmecken und fühlen, wie sich der Stoff von Kleidung vor 200 Jahren anfühlte."
Redakteur:Thomas Sulzyc aus Seevetal | |
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