Todesschüsse von Harsefeld
Erschossener Flüchtling: Strafanzeige gegen Polizei und Behörden
jd. Harsefeld/Stade. In der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 2021 starb der sudanische Asylbewerber Kamal Ibrahim durch Schüsse aus einer Polizeiwaffe. Die Beamten hatten auf den 40-Jährigen gezielt, weil dieser sie mit einem Messer bedroht haben soll. Die genauen Umstände des nächtlichen Dramas sind Gegenstand laufender polizeilicher Ermittlungen. Nun liegt in diesem Fall zusätzlich eine Strafanzeige vor - von elf Personen, die sich ehrenamtlich im Bereich Menschenrechte und Flüchtlingshilfe engagieren. Die Strafanzeige richtet sich gegen die Polizei, den Landkreis Stade sowie die Samtgemeinde Harsefeld - wegen Körperverletzung mit Todesfolge bzw. fahrlässiger Tötung sowie unterlassener Hilfeleistung.
Laut Mitteilung des Flüchtlingsrates Niedersachsen hätten "Mitglieder einer Bürgerinitiative, die sich im Landkreis Stade für Menschenrechte einsetzt", Anzeige erstattet. Dass damit die "BI Menschenwürde" gemeint ist, liegt auf der Hand. Allerdings betont BI-Co-Sprecherin Ingrid Smerdka-Arhelger, dass die Strafanzeige nicht im Namen der Bürgerinitiative erfolgt sei.
"Die 'BI Menschenwürde' beschreitet hier einen anderen Weg", so Smerdka-Arhelger. "Wir suchen das Gespräch, um Lösungen zu finden, damit sich ein solch schrecklicher Vorfall nicht wieder ereignet." Mit Landrat Kai Seefried gebe es bereits einen Termin und an die Polizei habe man ein Gesprächsangebot gerichtet. Eine Antwort stehe noch aus. Bei der juristischen Aufarbeitung vertraue sie auf den Rechtsstaat. Der "BI Menschenwürde" gehe es um die strukturellen Probleme, die der tragische Fall ans Licht gebracht habe. Damit spricht Smerdka-Arhelger den entscheidenden Punkt aus Sicht der Flüchtlingsbetreuer an: Geflüchtete mit psychischen Problemen erhielten so gut wie keine Hilfe durch die Behörden und die Lage in den Flüchtlingsunterkünfte interessiere die Verantwortlichen nicht.
Im Fall Kamal Ibrahim war die Polizei von Mitbewohnern gerufen wurden, weil diese sich von ihm bedroht fühlten. Schon zuvor hatte sich der Sudanese aggressiv verhalten und war psychisch auffällig. Nach Angaben der anderen Bewohner sollen der Samtgemeinde die Probleme des psychisch Kranken bekannt gewesen sein. Doch niemand habe sich gekümmert. Dieses mutmaßliche Behördenversagen ist Grund dafür, dass sich die Strafanzeige der elf Privatpersonen nicht nur gegen die Polizei, sondern auch gegen die Samtgemeinde Harsefeld und den Landkreis Stade richtet.
Den Verantwortlichen im Harsefelder Rathaus wird u.a. vorgeworfen, nicht auf die Hinweise der Mitbewohner reagiert zu haben. Beim Landkreis sehen die Anzeigenerstatter die Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes und die Sozialdezernentin in der Verantwortung. Es dürfte ein "erheblicher Anfangsverdacht gegen die verantwortlichen Mitarbeiter mehrerer beteiligter Institutionen bestehen, den Tod des Herrn K. Ibrahim durch Unterlassen und Fahrlässigkeit zumindest mitverschuldet zu haben", heißt es in der Anzeige.
Die Anzeige gegen die Polizei wiederum richtet sich nicht nur gegen die am Einsatz beteiligten Beamten, die die tödliche Schüsse abgaben, sondern auch gegen die Einsatzleitung. Die Polizisten seien mit der Situation vor Ort überfordert gewesen, so der Vorwurf. Ansonsten sei nicht zu erklären, dass laut Zeugen fünf Schüsse - darunter zwei tödliche - abgefeuert wurden, selbst wenn Notwehr angenommen werde. Zudem sei zu klären, "warum keine Maßnahmen zum Einfrieren der Lage ergriffen wurden".
Seitens des Flüchtlingsrates Niedersachsen wird die Strafanzeige begrüßt. Engagierte Bürger würden so alle rechtlichen Mittel zu einer "lückenlosen Aufklärung" nutzen. Dabei wird auf den Fall des afghanischen Flüchtlings Aman Alizada verwiesen, der im Sommer 2019 in Bützfleth erschossen wurde. Dort habe es seitens der Staatsanwaltschaft "keinerlei Aufklärungsinteresse" gegeben, so Flüchtlingsrats-Referent Sigmar Walbrecht. Das müsse jetzt anders laufen. "Es darf nicht sein, dass es am Ende Tote gibt, wenn Geflüchtete die Polizei rufen."
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