Auf nächtlicher Beutetour auf dem Kartoffelacker
bc. Stade. In einer dreiteiligen Serie erzählt das WOCHENBLATT von der dramatischen Flucht der fünfköpfigen Familie Schütz von Pommern nach Stade. Mit acht Jahren verlässt Kurt Schütz im März 1945 mit seiner Mutter und den drei Brüdern seine Heimat. Unterwegs verstirbt sein zweijähriger Bruder Horst. Nach der Überfahrt mit dem Schiff nach Ükermünde drängt sich die Familie in einen überfüllten Zug. Sie hat nur ein Ziel: den Westen.
• Auf der Fahrt wird der Zug angegriffen. Als ein Flugzeug direkt auf die Lok zurast, schreit der kleine Kurt aus vollem Halse. Die Lok wird getroffen. "Wir saßen gleich im ersten Waggon, wurden aber nicht verletzt", erzählt Kurt Schütz. Den Flüchtlingen bleibt nichts anderes übrig, als auf den nächsten Zug zu warten. Tage vergehen.
Endlich am Bahnhof in Stade angekommen, finden sie Unterkunft in einer Steinbaracke im Ortsteil Hahle. Sie trägt den Namen "Marie". "Wir schliefen auf Zementböden, die mit wenig Stroh ausgelegt waren", erinnert sich Kurt Schütz. Glücklich sind sie trotzdem. Denn sie wissen: Die Flucht ist jetzt zu Ende.
Mutter Gertrud und die drei Kinder Paul (5), Kurt und Heinz (10) haben wieder ein Dach über dem Kopf. Was bleibt, ist der Hunger. Die Menschen im Barackenlager überlegen sich einen regelrechten Schlachtplan, um an Essen zu kommen. Tagsüber wird die Landschaft ausgekundschaftet, nachts wagt man sich auf die Kartoffeläcker. "Es war gar nicht so einfach, Kartoffeln zu stehlen. Die Bauern liefen Streife", schildert Kurt Schütz.
Einen Herd oder Ofen zur Zubereitung des mühselig herangeschafften Essens gibt es jedoch nicht. Gekocht wird an einer Kochstelle. An regnerischen Tagen bleibt die Küche kalt, eine Überdachung fehlt.
Irgendwann im Juni 1946 hört Mutter Gertrud schwere Schritte im Flur. Es sind die Stiefel eines Soldaten. Tatsächlich. Da steht er vor ihr. Rudi Schütz, Ehemann und Vater ihrer Kinder. Er hat den Russland-Feldzug überlebt. Fortan übernimmt er die nächtlichen "Beute-Touren", um die Familie zu ernähren.
Falls es nicht reicht, betteln die Kinder so lange bei Soldaten, von denen auch einige in den Baracken leben, bis sie einen Teller Suppe aus ihren Gulaschkanonen bekommen.
Kurt Schütz aus Stade-Wiepenkathen ist heute Rentner. Trotz aller Widrigkeiten und Entbehrungen hat er viele schöne Erinnerungen an seine Kindheit. Etwa an die Hühner, die er in der Mini-Gartenparzelle hinter der Baracke halten durfte, an die Fußballduelle auf dem Stoppelacker mit den anderen Kindern aus dem Barackenlager oder die Räuber- und Gendarm-Spiele.
Insgesamt zehn Jahre lebt die Familien in dem Lager - eine Zeit, die so unvorstellbar weit in der Ferne zu liegen scheint - und doch erst 70 Jahre her ist.
Hier geht es zum Teil 1 der Zeitzeugen-Serie
Redakteur:Björn Carstens aus Buxtehude |
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