Unsichtbare Grenzen
Deutsch-deutsche Trennung – auch noch 35 Jahre nach dem Mauerfall?
Heute vor 35 Jahren, am 9. November 1989, fiel in Berlin die Mauer. Es war der Startschuss für ein wiedervereintes Deutschland nach 40 Jahren. Die reale Mauer ist seit Jahrzehnten verschwunden. Aber wie sieht es in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger aus? Gibt es dort noch eine Mauer, die Deutschland teilt? Das WOCHENBLATT hat anlässlich des 35. Jahrestags nachgefragt: Bei Menschen, die den Mauerfall miterlebten, aber auch bei der Generation, die nach 1989 geboren wurde. Zudem wollten wir wissen, welche Begriffe unseren Leserinnen und Lesern zum Thema Mauerfall in den Kopf kommen. Das Ergebnis haben wir grafisch dargestellt (s. oben): Je häufiger ein Wort fiel, desto größer erscheint es im Mindmap.
Florian Schneider, 52,
aus Neu Wulmstorf:
Mein bester Freund ist ein „Ossi“. Dass wir in verschiedenen Systemen groß geworden sind, ist zu merken – etwa wenn er merkwürdige Zeitangaben benutzt wie „dreiviertel zwei“ oder von einer „Kaufhalle“ spricht. Solche sprachlichen Barrieren bestehen aber zwischen mir und einem Saarländer ganz genauso. So richtig (sprach-)grenzenlos-eins sind mein „Ossi“-Freund und ich, wenn wir uns über die AfD aufregen.
Überzeugte Demokraten stehen eben geeint zusammen.
Lennart Schneider, 16,
aus Neu Wulmstorf:
Für mich ist es immer noch schwer vorstellbar, dass Deutschland geteilt war und verschiedene Systeme direkt nebeneinander existierten. Beim Blick auf das geeinte Deutschland gibt es natürlich immer noch einige Unterschiede in Sachen Infrastruktur und Einkommen.
Ich glaube jedoch fest daran, dass demokratische Parteien das Land auch in Zeiten, in denen Faschisten und Sozialisten spalten wollen, so zueinander führen können, dass die Menschen im geeinten Deutschland friedlich zusammenleben können.
Christian Eck, 38,
aus Hittfeld:
Ich denke schon, dass in den Hinterköpfen der Menschen noch so etwas wie eine Mauer besteht und sich diese momentan wieder "aufzubauen" scheint.
Das erkennt man nicht zuletzt auch an den politischen Strömungen vor allem im Osten des Landes. Gerade junge Menschen aus dem Osten scheinen sich politisch mehr nach rechts zu orientieren. Oder aber suchen ihr privates und berufliches Glück in westlichen Großstädten. Der daraus erfolgende "Braindrain" hängt die neuen Bundesländer wirtschaftlich und politisch weiter ab. Hier ist vor allem die Politik gefragt.
Jan Steffens, 51,
aus Stade:
Ich sehe keine Mauern in den Köpfen zwischen Ost und West.
Es gibt aber unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen, die gibt es aber zum Beispiel auch zwischen Menschen aus der Stadt und vom Land oder zwischen Nord und Süd. Wichtig ist, sich gegenseitig zuzuhören und andere Meinungen auch zu respektieren.
Nick Reinartz, 38,
aus Buxtehude:
Viel mehr als durch Erzählungen meiner Eltern bin ich nie in Berührung mit dem Mauerfall oder den Lebenssituationen während des Bestehens der Mauer gekommen. Lediglich einige wenige Karten in meiner Grundschulzeit zeigten noch Ost- und Westdeutschland.
Dennoch hat sich die Mauer auch in unserer Generation eingebrannt und ich denke, dass sie dicke Kerben in Deutschland hinterlassen hat.
Lebensumstände, Löhne, Kulturangebot – es ist immer noch vieles anders. Das ist leider auch in der erschreckenden aktuellen politischen Situation zu erkennen.
Wolfgang Meyer, 71,
aus Buchholz-Reindorf
Während meiner Dienstzeit beim Bundesgrenzschutz in den 1970er Jahren hatte ich oft an der „Zonengrenze“ zu tun. Es war irgendwie immer ein beklemmendes Gefühl: der drei Meter hohe Zaun aus scharfkantigem Streckmetall mit den Selbstschussanlagen dahinter. Hin und wieder die Grenzstreife mit ihren Kalaschnikows über der Schulter. Oft kam mir dabei der Gedanke, wie und ob sich dieser Zustand irgendwann einmal verändern wird. 15 Jahre später hatten wir Antwort. Heute verbringe ich gerne meinen Urlaub im Ostharz.
Von Grenzen, im Sinne von abgrenzen, kann heute kaum noch die Rede sein.
Vielleicht vergleichbar wie zwischen den Bundesländern Bayern und Niedersachsen. Man merkt es auch daran, dass sich aktuell die Menschen weitgehend die gleichen Sorgen und Ängste teilen.
Elke Weh, 70,
aus Fredenbeck
Ich lebe fast genau 35 Jahre mit Mauer und 35 Jahre ohne. Für die Menschen in den alten Bundesländern hat sich durch den Mauerfall wenig verändert, für die Menschen in den neuen Bundesländern aber alles! Ich kann mir darum vorstellen, dass Menschen meiner Generation, die in der DDR aufgewachsen und sozialisiert sind, heute durchaus noch eine „mentale Mauer“ im Kopf haben, weil sie manche gute Einrichtung der DDR im Alltag vermissen, die im Zuge der Wiedervereinigung verloren gegangen ist oder abgeschafft wurde. Daran sind in ihren Augen die Wessis schuld.
Das trennt nachhaltig und kann mental auch an die jüngere Generation weitergegeben werden.
Daniel Beneke, 29,
aus Stade
Ich bin im vereinten Deutschland geboren, habe Mauer und Mauerfall nicht miterlebt. Die deutsche Teilung kenne ich nur noch aus dem Geschichtsunterricht und von Museumsbesuchen. Meine Generation unterscheidet nicht mehr zwischen alten und neuen Bundesländern.
Dass es aber in der gesellschaftlichen Stimmung nach wie vor ein starkes Ungleichgewicht zwischen Ost und West gibt, haben die Europawahl und die Landtagswahlen gezeigt.
Und das erfüllt mich durchaus mit Sorge um den Zusammenhalt in unserem Land.
Jörg Hartmann, 41,
aus Hittfeld
In meiner frühen Kindheit hatte ich Freunde, die als Kind aus Mecklenburg-Vorpommern nach Hittfeld/Seevetal gezogen waren. Einige dieser Freundschaften bestehen bis heute.
Glücklicherweise habe ich keine Erfahrungen mit Neid, Bevormundung oder erneute Trennungsgedanken gehabt.
Auch mit meiner Familie habe ich persönlich früh gelernt, dass wir nun alle "vereint" sind. Mein Vater war ab Anfang April 1990 für etwas mehr als ein Jahr beruflich in Ostdeutschland tätig. In dieser Zeit konnten wir ihn alle paar Wochen in Stralsund und/oder Berlin besuchen und so habe ich u.a. ab meinem siebten Lebensjahr den Gedanken der Einheit und das gemeinsame Miteinander erleben können.
Marieke Meyer, 24,
aus Moisburg
Ich denke, dass die Mauer innerhalb meiner Generation und in meinem Beruf – ich bin Rettungssanitäterin und mache zurzeit ein Studium als Arztassistenz – nicht mehr wirklich in den Köpfen verankert ist. Die Mauer ist ja gefallen, bevor ich überhaupt geboren wurde.
Ich kann mir selber gar nicht vorstellen, wie sich ein geteiltes Deutschland anfühlt, und bin auch froh, es nicht miterlebt zu haben.
Im Rettungsdienst ist klar, dass alle Menschen gleich sind, da spielt die Herkunft in keinem Fall eine Rolle.
Alice Hofer, 47,
aus Tostedt
Bei der Maueröffnung war ich zwölf Jahre alt. Ich habe im Fernsehen gesehen, wie die Menschen gejubelt haben, wie sie Teile aus der Mauer brachen und mit Trabbis nach Hamburg fuhren. Aber so richtig verstanden habe ich das nicht. Später war bei mir das Thema "Wiedervereinigung" etwas negativ behaftet, weil meine Mutter viel über den Solidaritätszuschlag geschimpft hat. Jetzt sehe ich alles positiv.
Für mich ist es normal, dass jeder überall hinfahren darf.
Lisa Schnaars, 22,
aus Lauenbrück
Ich habe den Mauerfall selbst nicht miterlebt und komme aus einer Generation, die dieses Ereignis nur aus Erfahrungsberichten und Geschichtsbüchern kennt.
Eine gewisse Grenze zwischen den neuen und alten Bundesländern ist trotzdem auch für uns noch spürbar.
Sei es das allgemeine Landschaftsbild, das sich verändert, wenn man über die alte Grenze fährt, oder auch die bis heute andauernden wirtschaftlichen Unterschiede. Vor allem zeigt sich aber in der Politik ein deutlicher Gegensatz, der in den letzten politischen Umfragen erkennbar ist.
Bianca Tacke, 47,
aus Luhmühlen
In meinem Umfeld nehme ich keine Mauer in den Köpfen zwischen West- und Ostdeutschland wahr. Wenngleich doch manchmal Unverständnis aufkommt, wie z. B. nach den letzten Wahlergebnissen in einigen ostdeutschen Bundesländern.
Ich glaube, wir können und müssen gesamtgesellschaftlich mehr Toleranz und Akzeptanz für die Traditionen und Geschichten der Menschen entwickeln.
Ich wünsche mir, dass wir 35 Jahre nach dem Mauerfall die Solidarität zwischen West und Ost stärken und gemeinsam für ein gerechtes und offenes Land eintreten, das die Vielfalt und die Errungenschaften seiner Geschichte wertschätzt und anerkennt.
Jill Hermann, 20,
aus Hamburg
Auch wenn der Mauerfall schon 35 Jahre zurückliegt, merke ich manchmal, dass die Trennung zwischen Ost und West noch immer präsent ist. In Gesprächen mit Älteren, zum Beispiel, begegnen mir ab und zu alte Klischees oder Witze über “Ossis” und “Wessis”. Für mich und viele in meinem Alter ist das jedoch kein Thema mehr.
Gleichheit und Zusammenhalt sind in meinem Umfeld inzwischen selbstverständlich.
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