Jeder Einreisestempel ist eine Erinnerung
Ein Wessi im Osten: Mein alter Reisepass und die DDR
Ein zufälliger Fund beim Aufräumen weckte bei WOCHENBLATT-Redaktionsleiter Jörg Dammann Erinnerungen, wie er als "West-Bürger" die DDR in ihren letzten Jahren erlebt hat. In einer Pappschachtel fand er seinen alten Reisepass wieder. Hier sein Bericht über eine bewegte Zeit:
Das abgegriffene Dokument begleitete mich in den 1980er Jahren auf zahlreichen Reisen in die DDR. Ich blätterte durch die Seiten und zählte nach, mit wie vielen Visa- bzw. Einreisestempeln des Arbeiter- und Bauernstaates er versehen ist. Ich kam auf rund 50 Stempel. Viele davon stammen aus den Monaten nach dem Mauerfall. Ich war aber auch schon vorher öfter 'drüben'. Für mich ist jeder dieser Stempel mit einer besonderen Erinnerung verbunden - an einen verfallenden Staat jenseits des Eisernen Vorhangs: die grauen Fassaden, die tristen Orte und - zumindest bis zur Wende - das Gefühl einer Gesellschaft im Stillstand. All das wirkte damals für mich gleichermaßen faszinierend wie abschreckend.
Zwischen Bohnenkaffee und Bananen – Grenzkontrollen in Marienborn
Vor dem Mauerfall fuhr ich hauptsächlich zu Verwandtenbesuchen in die DDR. Der Weg dorthin führte immer, wie die Vielzahl der Stempel belegt, über den Grenzübergang Marienborn. An lange Wartezeiten war man hier gewöhnt, schließlich verlief über Marienborn auch eine der drei Transitstrecken nach West-Berlin. Die Grenzer durchwühlten den Kofferraum, beäugten kritisch den guten Bohnenkaffee und die frischen Bananen, die wir den Verwandten mitbrachten. Bei der Ausreise waren die Kontrollen meist noch strenger, die Karosserie wurde nach Hohlräumen abgeklopft und ein Spiegel unter den Wagen geschoben. Jeder Westdeutsche stand offenbar unter Generalverdacht, ein potenzieller Fluchthelfer zu sein.
Bröckelnder Putz und kaputte Straßen
In der Vor- und unmittelbaren Nachwendezeit besuchte ich zahlreiche Städte in der DDR: Ost-Berlin, Leipzig, Weimar, Halle, Magdeburg, Wernigerode, Halberstadt, Quedlinburg, Wismar, Nordhausen - um nur einige zu nennen. Abseits der Hauptstraßen und Sehenswürdigkeiten war überall der Verfall als Abbild des real existierenden Sozialismus sichtbar: kaputtes Mauerwerk, bröckelnder Putz, marode Gebäude. Unser Auto holperte über Straßen, die mit Schlaglöchern übersät waren. Bei einer Fahrt war die Fahrbahn so löchrig, dass die Halterung des Auspuffrohrs abriss. Mein Onkel improvisierte eine Reparatur mit „Plaste und Elaste“ aus DDR-Produktion.
Wohin mit den "Aluchips"?
Der Zwangsumtausch von 25 Mark pro Tag und Person stellte uns immer wieder vor das Problem: Wohin mit den "Aluchips", wie die Ostmark-Münzen genannt wurden? Was sollte man in der DDR schon kaufen? Die Auswahl im Konsum oder in der Kaufhalle war bescheiden und die Waren aus westlicher Produktion, die in den Intershops angeboten wurden, gab es nur gegen harte Devisen wie D-Mark oder Dollar. Zu meinen ersten DDR-Mitbringseln gehörten ein mehrbändiges Literaturlexikon, ein georgischer Brandy und eine Klemmmappe, die ich heute noch nutze, um darin wichtige Unterlagen zu verwahren.
Neue Wege in den Osten
Dann kam der Mauerfall. Plötzlich war die Grenze offen. Während schier endlose Kolonnen von Trabis gen Westen strömten, unternahm ich, damals relativ grenznah in Göttingen wohnhaft, zahlreiche Touren in den Osten. Bereits in den ersten Tagen und Wochen nach dem 9. November wurde der Eisernen Vorhang löchrig. Fast täglich wurden neue Grenzübergänge geöffnet, seit Jahrzehnten gekappte Straßenverbindungen wurden mithilfe einer Lkw-Ladung voll Asphalt und einer Walze wiederhergestellt. Manchmal gab es auch nur einen Durchgang für Fußgänger - in Form eines in den Grenzzaun geschnittenen Loches. Die neue Vielfalt bei den Übergängen spiegelte sich auch in meinem Reisepass wider. Statt des ständigen Marienborn waren die Stempel nach dem Mauerfall mit ganz neuen Ortsnamen versehen: Benneckenstein, Elend, Hohengandern, Mackenrode, Lüttgenrode usw. Gefühlt führte nun alle fünf bis zehn Kilometer ein Weg in die DDR.
Sanierte Häuser, moderne Straßen
Besonders häufig war ich damals im Harz zum Wandern unterwegs. Endlich konnte ich diejenigen Bereiche betreten, die zuvor Sperrgebiet waren. Eine der ersten Touren führte mich auf den kurz zuvor freigegebenen Brocken-Gipfel, der auch für DDR-Bürger über Jahrzehnte unerreichbar gewesen ist. Kürzlich war ich wieder für ein paar Tage im Ostharz, besuchte die Orte, die ich schon aus DDR-Zeiten kannte. Viele sind kaum wiederzuerkennen. Häuser wurden saniert, Fassaden renoviert und Straßen komplett neu gebaut. Die Innenstädte erstrahlten in neuem Glanz, Autobahnen und modernen Fernstraßen haben die maroden Holperpisten ersetzt. Ich frage mich: Warum klagen die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern über vermeintlich schlechte Zustände? Die dortige Infrastruktur ist gewiss nicht beklagenswert. Sie ist vielerorts besser als in weiten Teilen Westdeutschlands.
Alte Ansichten haben überdauert
Und dann erinnere ich mich noch an eine Reise mit einer Jugendgruppe nach - wie es offiziell hieß - 'Berlin, Hauptstadt der DDR'. Wir besuchten einen Jugendclub im Stadtteil Marzahn und diskutierten mit Jugendlichen, die in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) organisiert waren. Ihre Argumente klangen wie aus einem SED-Lehrbuch, voller Hass auf die NATO, die sie als Kriegstreiber sahen, und voller Misstrauen gegenüber dem Westen. Interessanterweise höre ich heute ähnliche Argumente bei den Anhängern der Partei 'Bündnis Sahra Wagenknecht' (BSW). Es ist, als wären manche Denkweisen aus der alten DDR bis heute konserviert geblieben.
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