Interessantes Modellprojekt
Eine Stunde später zur Schule
In der Pubertät schüttet der Körper das schlaffördernde Hormon Melatonin später aus als im Kindesalter. Die Folge: Teenager schlafen abends später ein und sind morgens, wenn der Wecker für die Schule klingelt, oft nicht ausgeruht.
Für viele Jugendliche klingt das deshalb nach einem absoluten Traum: Selber entscheiden dürfen, wann man morgens mit dem Schulunterricht startet. Die Berufsbildende Schule in Rinteln in Südniedersachsen hat das im Rahmen eines Projekts ausprobiert. Seit vergangenen Herbst entscheiden die Schülerinnen und Schüler des Berufsgymnasiums an einigen Tagen eigeständig, ob sie zur ersten oder zur zweiten Stunde in den Unterrichtstag starten. Das Gleitzeitmodell sieht um 8 Uhr eine "bunte Stunde" vor, die wahlweise für Projektarbeit oder zum Ausschlafen genutzt werden kann. Damit die Schülerinnen und Schüler, die erst zur zweiten Stunde zum Unterricht kommen, die Zeit nicht am Nachmittag ranhängen müssen, ist Projektarbeit ein fester Bestandteil des Modells. Dabei entscheiden die Schülerinnen und Schüler selbst, wann und wo sie bestimmte Aufgaben erledigen.
Sowohl die Jugendlichen als auch die Lehrer sind mit dem Projektverlauf sehr zufrieden. Die Schülerinnen und Schüler, die länger schlafen, fühlen sich ausgeruhter und fokussierter – insbesondere wenn am Abend zuvor gejobbt, Vereinssport getrieben oder Fahrschulunterricht genommen wurde. Auch Lehrerinnen und Lehrer nutzen die Lücke am morgen, um zum Beispiel den eigenen Nachwuchs in den Kindergarten zu bringen. Generell fördert das Modell bei den jungen Erwachsenen die Selbstständigkeit, weil sie sich im Rahmen des Projekts selbst organisieren müssen.
Winsener Schulen stehen im Austausch mit Rinteln
Im Landkreis Harburg ist man auf das Rintelner Modell bereits aufmerksam geworden. "Wir sind seit Jahren dabei, innovative Unterrichtskonzepte, die das Lernen in den Fokus stellen, bei uns zu implementieren", sagt Thomas Degen, Leiter der Berufsbildenden Schule in Winsen. "Auf die BBS in Rinteln sind wir schon vor einiger Zeit aufmerksam geworden und mit ihr in Kontakt getreten." Im Oktober werde eine Abordnung aus Winsen mit dem Leiter des beruflichen Gymnasiums und drei weiterer Kolleginnen und Kollegen nach Rinteln fahren, um vor Ort in den Erfahrungsaustausch zu treten. Ziel sei, ein auf den Modellen der BBS Winsen basierendes und von den BBS Rinteln beeinflusstes Konzept umzusetzen. "Wir streben dabei eine erste Umsetzung bereits zum nächsten Schuljahresbeginn 2025/2026 an", so Thomas Degen.
"Das Konzept der BBS Rinteln ist für einzelne Bildungsgänge einer Bündelberufsschule ein sehr interessanter Ansatz", sagt auch Kira Buchmann, Leiterin der BBS Buchholz in der Nordheide. "Auch wir setzen uns in der Schul- und Unterrichtsentwicklung mit neuen Konzepten für ein gelingendes Lernen ein. Dabei setzen wir zurzeit unsere Schwerpunkte auf individualisiertes und selbstorganisiertes Lernen und Unterricht mit digitalen Medien." Hierfür hat die Schule u.a. Lernräume in der Schule neu gestaltet und z.B. Lerninseln, Begegnungsräume und offene Aufenthaltsbereiche eingerichtet. Zusätzlich bieten fachlich qualifizierte Lerncoaches wöchentlich Beratungstermine für Lernende zu Themen wie Umgang mit Prüfungsangst, Überwindung von Lernblockaden und Einübung von Entspannungstechniken an. "Eine Herausforderung bei der ,bunten Stunde' stellen die rechtlichen Rahmenbedingungen und das Ressourcen-Management der Schule dar", erklärt Kira Buchmann. Als Beispiele nennt sie Aufsicht in dieser Zeit, die Gewährleistung des Lehrplans und die Anpassung des Schulbusbetriebs.
Für Stader BBS 2 sind viele Modelle denkbar
"Rinteln hat da ein sehr interessantes Modellprojekt, es gibt jedoch auch viele andere", sagt Claudia Voß, Schulleiterin der BBS 2 in Stade. Sie hat gerade eine mehrtägigige Fortbildung zum Thema "neues Lernen" besucht und viele spannende Ansätze kennengelernt. Das Team der Stader BBS 2 beschäftigt sich schon länger mit Ideen zum selbstorganisierten Lernen. "Wir befinden uns hier jedoch noch in der Findungsphase", sagt Voß. Sie weist darauf hin, dass man bei neuen Lernmodellen nicht nur die Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch die Schülerinnen und Schüler mitnehmen muss. Nicht jeder bzw. jede Jugendliche wolle in Eigenregie lernen und arbeiten, sondern bevorzuge eine feste Struktur.
Kultusministerium: Modell hat Vor- und Nachteile
Das Niedersächsische Kultusministerium als zuständige Schulbehörde sieht in dem Modell sowohl Vor- als auch Nachteile. "Der Wunsch vieler Schüler und Schülerinnen, morgens später mit der Schule zu starten, ist nicht neu und auch durchaus nachvollziehbar", sagt Pressesprecherin Britta Lüers. Grundsätzlich sei ein späterer Unterrichtsbeginn an Niedersachsens Schulen möglich. Per Erlass ist lediglich festgelegt, dass der Unterrichtsbeginn in der Regel nicht vor 7.30 Uhr liegen soll. Zurzeit variieren die Unterrichts-Anfangszeiten zwischen 7.30 und etwa 8.20 Uhr. Allerdings müssen die Zeiten mit dem Schulträger und dem Träger der Schülerbeförderung abgestimmt und auch Eltern- und Schülervertretungen mit ins Boot geholt werden.
"Bei der Entscheidung muss vieles bedacht werden", erklärt Britta Lüers. "Neben dem Wunsch, länger schlafen zu können, spielen durchaus auch andere Interessen rein: organisatorische, wenn es z.B. um die Schulbusse geht, aber auch private Vereinstätigkeit, Musikunterricht und so weiter." Denn bei einem späteren Unterrichtsbeginn verschiebe sich auch der Unterrichtsschluss nach hinten. "Dahinter steht auch die Frage, wann ein Kind bzw. ein Jugendlicher Anspruch auf Feierabend hat“, so die Pressesprecherin weiter. Zudem müsse auch berücksichtigt werden, ob und welchen Betreuungsanspruch Familien für ihre Kinder haben, wenn die Erziehungsberechtigten z.B. frühmorgens arbeiten gehen.
Kreiselternrat in Winsen begrüßt innovative Modelle
Der Kreiselternrat im Landkreis Harburg begrüßt grundsätzlich innovative Modelle wie die an der BBS Rinteln eingeführte "bunte Stunde". "Soweit sich dies planerisch und personell an Schulen in unserem Landkreis umsetzen lässt, könnte unter vorheriger Einbeziehung der jeweiligen Schulelternschaften auch hier die Einführung von Gleitzeitmodellen Sinn machen, insbesondere in den höheren Klassenstufen", sagt der Vorsitzende Carsten Grau. "Hierdurch wird eine erhöhte Flexibilität und Eigenverantwortlichkeit der Schüler gefördert, wobei natürlich eine Verlässlichkeit für jeden einzelnen gewährleistet sein muss." Für die jüngeren Jahrgänge stelle sich sicher das planerische Problem der schulischen Aufsicht und die entsprechenden organisatorischen Herausforderungen an die Schulleitungen.
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