Alle Fälle müssen aufgearbeitet werden
Missbrauch in der evangelischen Kirche: Kirchenobere aus dem Kreis Stade beziehen Stellung
Die unzähligen Fälle von sexuellem Missbrauch und deren zum Teil systematische Vertuschung haben die katholische Kirche ins Zwielicht gerückt. Aber auch in der evangelisch-lutherischen Kirche wurden sexuelle Übergriffe in der Vergangenheit häufig unter den Teppich gekehrt. Erschreckend sind jetzt die Zahlen, die der Forschungsverbund ForuM in seiner Studie "Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland" (mehr Informationen zur Studie hier) vorgelegt hat. Allein für den Bereich der Hannoverschen Landeskirche gibt die Studie aktuell 122 bestätigte Missbrauchsfälle bzw. Verdachtsfälle an - verübt von 110 Beschuldigten, darunter 63 Pastoren (alle männlich). Diese Zahl bilde "ausdrücklich nur einen Ausschnitt davon ab, wie viele Betroffene seit 1945 in unserer Landeskirche sexualisierte Gewalt erlitten haben", erklärte Landesbischof Ralf Meister. Zudem mache die Studie deutlich, wie die Strukturen in der evangelischen Kirche sexuellen Missbrauch ermöglicht hätten. Das WOCHENBLATT bat die führenden Kirchenvertreter im Landkreis Stade, eine erste Stellungnahme zu den Ergebnissen der Studie abzugeben. Hier die Statements von Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy (Sprengel Stade) sowie der beiden Superintendenten Dr. Martin Krarup (Kirchenkreis Buxtehude) und Superintendent Dr. Marc Wischnowsky (Kirchenkreis Stade).
Schutzkonzepte wirksam umsetzen
Dr. Hans Christian Brandy, Regionalbischof für den Sprengel Stade:
"Die ForuM-Studie hat ein erschreckendes Ausmaß von sexualisierter Gewalt innerhalb unserer evangelischen Kirche und der Diakonie offengelegt. Auch wenn wir manches schon gewusst oder geahnt haben, bin ich erschüttert von der Wucht dieser Fülle. Hinter den Zahlen stehen ja ungezählte Einzelschicksale. Besonders nahe geht mir, dass so viele Menschen betroffen sind.
Wir müssen und werden die Studie jetzt sorgfältig auswerten und Folgerungen daraus ziehen. Die benannten erheblichen systemischen Fehler bei der Aufarbeitung müssen wir konsequent auf allen Ebenen von Kirche und Diakonie analysieren und abstellen. Ebenso müssen unsere Schutzkonzepte weiterentwickelt und wirksam umgesetzt werden, damit Kirche ein sicherer Ort für Kinder, Jugendliche und Erwachsene ist."
Tätern wurde es leichtgemacht
Dr. Martin Krarup, Superintendent für den Kirchenkreis Buxtehude:
"Die Ergebnisse der ForuM-Studie sind erschreckend. Die an sich schon sehr hohen Zahlen zeigen offensichtlich längst nicht das ganze Ausmaß. Sehr junge Kinder waren betroffen. Viele Betroffene leiden jahrzehntelang unter den Folgen. Die Ergebnisse müssen unbedingt auf allen kirchlichen Ebenen genau wahrgenommen werden und zu Veränderungen führen.
Die Studie gibt Hinweise darauf, wo besondere Risiken in der evangelischen Kirche liegen. Viele Täter waren charismatische Persönlichkeiten, denen es in den evangelischen Gemeinden leichtfiel, jegliche Distanz abzubauen und Vertrauen zu missbrauchen. Viel zu lange wollten Verantwortliche in unserer Kirche diese Risiken nicht wahrhaben. So wurde es Tätern leichtgemacht und es geschah viel Leid.
Auch bei der Aufarbeitung gab es dann oftmals keine klaren Zuständigkeiten. So mussten Betroffene immer wieder erleben, dass ihre Anliegen kein Gehör fanden. Ich hoffe, dass die Studie an dieser Stelle eine veränderte Wahrnehmung geschaffen hat. Die Stimme von Betroffenen muss auf allen Ebenen stärker berücksichtigt werden. Dazu gehört auch die Einsicht, dass die Institution Evangelische Kirche Hilfe von außen braucht – nicht nur in der Aufarbeitung, sondern auch im weiteren Aufbau einer wirkungsvollen Prävention."
Vertrauen in die Kirche massiv erschüttert
Dr. Marc Wischnowsky, Superintendent für den Kirchenkreis Stade:
"Ich finde es unerträglich, dass so viele Menschen, die ihre Kirchengemeinde, ihre evangelische Jugendgruppe, ihre Orte der Andacht und der Seelsorge als geschützte und vertrauenswürdige Räume aufgesucht haben, in ihrem Vertrauen dermaßen verletzt wurden. Das gilt in besonderer Weise für alle, die innerhalb unserer Kirche und Diakonie sexualisierte und andere Gewalt erlitten haben. Aber auch andere Menschen sagen mir, sie hätten Kirche als Schutzraum empfunden, in dem es um Achtung und Respekt ginge, und dieses Vertrauen sei über die Jahre der Aufdeckung immer weiterer Fälle sexualisierter Gewalt in der Kirche massiv erschüttert worden.
Das macht mich demütig: Als Institution sind wir schuldig geworden, weil wir Menschen nicht schützen konnten und weil wir das Leid Betroffener nicht ernst genommen haben. Anspruch und Wirklichkeit fielen weit auseinander, das bescheinigt uns die Studie. Deshalb halte ich das Beteiligungsforum für sehr wichtig. Es wäre gut, diese Betroffenenperspektive auch auf anderen kirchlichen Ebenen einzubeziehen. Wir müssen im Miteinander von Landeskirche und Kirchenkreisen vergangene Fälle offen und transparent aufarbeiten.
Zudem denke ich, wir sind gerade vor Ort in der Pflicht, in allen kirchlichen Einrichtungen und Gemeinden die Aufgabe noch viel ernster zu nehmen, Strukturen zu durchleuchten und nachhaltige Präventionskonzepte einzuführen, damit Menschen ungefährdet bei uns sein können. Daran arbeiten wir in den Kirchenkreisen Stade und Buxtehude. Und merken dabei auch: Es geht um eine grundsätzliche Haltung der Ehrlichkeit, des Hinhörens und Hinschauens, wenn wir sexualisierte Gewalt und Übergriffe in kirchlichen Räumen verhindern wollen."
Missbrauchsfall aus Apensen sorgte bundesweit für Schlagzeilen
Für bundesweite Schlagzeilen sorgte seinerzeit auch ein Missbrauchsfall aus dem Landkreis Stade: Der damals 41-jährige Diakon Lars M. aus Apensen hatte im Jahr 2008 auf einer Ferienfreizeit in Fallingbostel zwei Jungen im Alter von zehn und zwölf Jahren missbraucht. Der Diakon, der seit 2001 bei der evangelischen Kirchengemeinde Apensen tätig war, leitete die örtliche kirchliche Pfadfindergruppe. Nachdem Eltern den damaligen Superintendenten des Kirchenkreises Buxtehude, Helmut Blanke, informiert hatten, erstattete dieser Anzeige und suspendierte M.
Nach einer Anhörung erhärtete sich der Verdacht gegen den Diakon und Pfadfinderführer. Er wurde entlassen. Anhaltspunkte für weitere Fälle habe es nicht gegeben, erklärte Blanke damals. M. wurde schließlich zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Außerdem musste er als Geldstrafe 4.500 Euro an die Kindernothilfe zahlen. Bei einem der Missbrauchsfälle soll der Diakon einfach weitergemacht haben, obwohl der Junge ihn darum bat, aufzuhören. Die betroffenen Kinder erhielten psychologische Hilfe.
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