Tostedt
Warum ein auffälliger Flüchtling nicht in die Psychiatrie kommt

Pressesprecher Jan Krüger (v .li.), Thomas Meyn, Leiter der Polizeiinspektion Harburg und Torsten Adam, Leiter der Polizeistation | Foto: bim
  • Pressesprecher Jan Krüger (v .li.), Thomas Meyn, Leiter der Polizeiinspektion Harburg und Torsten Adam, Leiter der Polizeistation
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"Muss denn erst jemand sterben, bis der Mann weggesperrt wird?" Fragen wie diese stellen sinngemäß mehrere Nutzer eines Online-Netzwerks zu einem Flüchtling, der in Tostedt seit Monaten immer wieder unangenehm auffällt, Hausverbote ignoriert und distanzlos, insbesondere gegenüber Frauen, ist. Das Auftreten des psychisch kranken Mannes wird mitunter als bedrohlich empfunden. Die Polizei wird als untätig an den Online-Pranger gestellt, weil sie den Mann nicht länger wegsperrt oder zumindest dafür sorgt, heimische Medien werden als "Lügenpresse" beschimpft. Welche Handhabe die Polizei tatsächlich hat, darüber sprach das WOCHENBLATT mit Torsten Adam, Leiter der Polizeistation Tostedt, Thomas Meyn, Leiter der Polizeiinspektion Harburg, und Polizeipressesprecher Jan Krüger.

Zunehmend Schwierigkeiten mit Menschen, die auffällig sind

"Wir haben zunehmend Schwierigkeiten mit Menschen, die auffällig sind", sagt Thomas Meyn. Bei dem nach "Recherchen" eines Online-Magazins auffälligen Syrer in Tostedt handelt es sich nach WOCHENBLATT-Informationen in Wahrheit um einen 24-jährigen geduldeten Flüchtling aus Eritrea, der nach derzeitiger Lage dort nicht in sein Heimatland abgeschoben werden kann.

Er hielt sich Mitte Mai in einer Arztpraxis in Tostedt auf, in der er Hausverbot hatte, und wollte nicht gehen. Als zwei Polizistinnen den Platzverweis durchsetzen wollten, griff er sie an. Außerdem gab es mit dem Flüchtling u.a. Probleme im Herbergsverein, Altenheim und Diakoniestation zu Tostedt.

"Wir kennen diesen Menschen seit 2020. Er fiel immer wieder auf, weil er Schwierigkeiten hatte, sich mit seiner Wohnsituation zurechtzufinden", sagt Torsten Adam zu dem "psychisch angeschlagenen" Flüchtling. Zwischenzeitlich sei dieser einer Arbeit nachgegangen, die er dann aber ebenso verloren habe wie seine Wohnung.   

Keinen Anspruch auf Platz in Asylbewerberunterkunft

Einen Anspruch auf einen Platz in einer Asylbewerberunterkunft habe der Flüchtling nicht mehr. Die für die Obdachlosenunterbringung zuständige Samtgemeinde Tostedt habe ihm einen Platz in der Notunterkunft am Alten Moorweg angeboten, der sozialpsychiatrische Dienst des Landkreises Harburg sei eingeschaltet gewesen, und auch die Polizei habe ihn beraten und ihm Ansprechpartner genannt. "Aber er nimmt einfach keine Hilfe an", so Torsten Adam. Auch wenn der 24-Jährige sicherlich krank sei: "Wir können niemanden zwingen, Hilfe anzunehmen, in eine Wohnung zu ziehen oder in die Psychiatrie zu gehen", erläutert Torsten Adam. 

Bei Einsätzen wie in der Arztpraxis sei die Polizei vergleichbar mit der Feuerwehr, die als erste vor Ort sei und die Sachlage kläre und - wie im genannten Fall - den Rettungswagen rief, um den psychisch auffälligen Mann in die Psychiatrie bringen zu lassen.  
 
Darüber, ob jemand in die Psychiatrie zwangseingewiesen wird, entscheide ein Arzt zusammen mit Ordnungsbeamten des Landkreises. In der Einrichtung werde der Betreffende dann nochmal von Ärzten begutachtet. Binnen 48 Stunden entscheide letztlich ein Richter, ob ein auffälliger Mensch länger in der Psychiatrie bleiben müsse oder nicht.

Freiheit ist ein hohes Gut

Auch dauerhaft im Gefängnis weggesperrt werden könne nur, wer strafrechtlich verurteilt sei, ergänzt Thomas Meyn. Über Langzeitgewahrsam bzw. Freiheitsentziehung entscheide das Amtsgericht. Nicht ohne Grund gebe es die staatliche Gewaltenteilung. "Freiheit ist ein hohes Gut. Wir sind an Recht und Gesetz gebunden", sagt Meyn. 

Der psychisch auffällige Flüchtling sei zwar "extrem unangenehm", aber außer in der Einschreitsituation durch die Polizistinnen in der Arztpraxis nicht gewalttätig. "Wir kontrollieren ihn regelmäßig und arbeiten mit anderen Behörden zusammen", betont Thomas Meyn.

Im Polizeibericht keine Nationalität genannt

Im Polizeibericht vom 16. Mai 2024, in dem über den Polizeieinsatz wegen des auffälligen Flüchtlings in der Tostedter Arztpraxis berichtet wurde, war übrigens keine Nationalität genannt worden. Der Grund: "Jedes Bundesland hat eigene Regeln. In Niedersachsen wird auf die Nennung von Nationalitäten verzichtet, um Minderheiten zu schützen. Die Herkunft wird nur genannt, wenn es für den Sachverhalt unabdingbar ist. Und das ist hier nicht der Fall", erläutert Jan Krüger.

Das besagt das Gesetz zur Zwangsunterbringung

Welche Voraussetzungen für eine Zwangsunterbringung erfüllt sein müssen, darüber klärt Tostedts Amtsgerichtsdirektorin Dr. Astrid Hillebrenner auf, die auf folgende Gesetzeslage verweist:

Wenn die Voraussetzungen vorliegen, kann eine Person nach § 16 des Niedersächsischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) untergebracht werden:

§ 16 Voraussetzungen der Unterbringung

Die Unterbringung einer Person ist nach diesem Gesetz nur zulässig, wenn von ihr infolge ihrer Krankheit oder Behinderung im Sinne des § 1 Nr. 1 eine gegenwärtige erhebliche Gefahr (§ 2 Nrn. 2 und 3 NPOG) für sich oder andere ausgeht und diese Gefahr auf andere Weise nicht abgewendet werden kann.

Im Regelfall nimmt die Polizei Kontakt zum Sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises auf, der den Einzelfall beurteilt und ggf. gemäß § 17 NPsychKG einen Antrag beim zuständigen Amtsgericht stellt. Diesem Antrag ist ein ärztliches Zeugnis beizufügen. In Eilt-Fällen ist die Behörde unter den Voraussetzungen des § 18 NPsychKG befugt, eine Person vorläufig unterzubringen und anschließend unverzüglich eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen.

Von der Unterbringung nach dem NPsychKG ist die Unterbringung nach § 1831 BGB zu unterscheiden, die grundsätzlich vorrangig ist, und für die ebenfalls das Betreuungsgericht zuständig ist:

§ 1831 Freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen

(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie erforderlich ist, weil

1. aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder

2. zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, die Maßnahme ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.

(2) 1Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig.
2 Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.

(3) 1 Der Betreuer hat die Unterbringung zu beenden, wenn ihre Voraussetzungen weggefallen sind.
2 Er hat die Beendigung der Unterbringung dem Betreuungsgericht unverzüglich anzuzeigen.

Keine Unterbringung, sondern eine (kurzfristige) Ingewahrsamnahme kommt bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 18 des Niedersächsischen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes (NPOG) in Betracht:

§ 18 Gewahrsam

(1) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies

1. zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet,

2. unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung

a) einer Straftat oder
b) einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit zu verhindern, oder
3. unerlässlich ist, um eine Platzverweisung nach § 17 durchzusetzen.

Redakteur:

Bianca Marquardt aus Tostedt

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