Landkreis Harburg
Nicht jeder bedrohliche Mensch ist psychisch gestört

Dr. Peter Schlegel, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes im  Landkreis Harburg | Foto: Landkreis Harburg
  • Dr. Peter Schlegel, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Landkreis Harburg
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Nachdem kürzlich ein 39-jähriger Mann aus Buchholz auf St. Pauli Passanten und Polizisten mit einem Hammer und einem Brandsatz bedroht hatte, erhob dessen Mutter in einem Interview mit der Bild-Zeitung Vorwürfe gegen Richter und Behörden. Auch im Fall des äthiopischen Asylbewerbers, der jüngst ein Buchholzer Flüchtlingsheim anzündete, wurde der Sozialpsychiatrische Dienst des Landkreises Harburg häufig erwähnt. Das WOCHENBLATT befragte Dr. Peter Schlegel, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Landkreises Harburg, wie die Vorgehensweise ist und wie die Zuständigkeiten geregelt sind

WOCHENBLATT: Wie geht der Sozialpsychiatrische Dienst mit Menschen um, die immer wieder auffällig werden, indem sie andere Menschen bedrohen?

Dr. Peter Schlegel: Vorweg: Menschen, die andere Menschen bedrohen, leiden nicht per se unter einer schweren psychischen Erkrankung. Deshalb ist zunächst im Vorfeld abzuklären, ob sich Hinweise für ein psychiatrisches Störungsbild im engeren Sinne ergeben. Falls dies nicht der Fall ist, bleibt es Aufgabe von Polizei und Justiz, hier im Besonderen der Staatsanwaltschaft, beispielsweise Maßnahmen im Sinne einer Einstweiligen Verfügung zu prüfen, um die bedrohten Menschen vor weiteren Übergriffen zu schützen.

Sollte sich ein Hinweis auf ein psychiatrisches Störungsbild im engeren Sinne ergeben, müsste idealerweise im Rahmen einer fachärztlichen Untersuchung des betroffenen Menschen geklärt werden, um welche Art von Störung es sich handelt. Hier ist wiederum zu unterscheiden in Störungsbildern, bei denen durch eine adäquate, beispielsweise medikamentöse Behandlung die Ursache des Gefährdungspotenzials und auch des Bedrohungspotenzials für andere abgestellt werden kann, und solchen, bei denen Menschen aufgrund tiefgreifender Persönlichkeitsmerkmale zu Gewaltbereitschaft - möglicherweise auch in Konfliktsituationen neigen -, die einer eher langfristigen psychotherapeutischen Behandlung bedürfen. Und bei denen zumindest teilweise keine ausreichende Veränderungsbereitschaft - auch vor dem Hintergrund eines diesbezüglich eingeschränkten Störungsbewusstseins - besteht.

In diesem Zusammenhang ist dann in einem weiteren Schritt zu überprüfen, inwieweit die betroffenen, auffälligen Personen sich auf Vermittlung in notwendige Behandlung einlassen und/oder andere Hilfen installiert werden können, die zur Entlastung beitragen und das vorbestehende Konfliktpotenzial reduzieren.

Infrage kommen beispielsweise:

  • die Aufnahme einer freiwilligen medikamentösen Behandlung über psychiatrische Institutsambulanzen,
  • niedergelassene Nervenärztinnen und Nervenärzte,
  • aber auch die Aufnahme in der zuständigen Versorgungsklinik, falls eine stationäre Behandlung notwendig erscheint.

Flankierende Hilfestellungen können über den Sozialpsychiatrischen Dienst als Leistung der Eingliederungshilfe vermittelt werden, wie:

  • eine qualifizierte Assistenz,
  • tagesstrukturierende Maßnahmen, im Bedarfsfall auch in betreuten Wohnformen,
  • in spezifische Angebote wie Anti-Aggressionstraining oder Ähnliches. 

WOCHENBLATT: Wie werden diese Menschen und evtl. deren Angehörige behandelt/beraten?

Dr. Peter Schlegel: Die Einbeziehung von Angehörigen erscheint bereits im Rahmen des oben geschilderten Abklärungsprozesses sinnvoll und notwendig, um Angaben zur Vorgeschichte wie auch zu den Gefährdungssituationen zu erhalten. Unter Umständen ergeben sich hierbei auch eigene Beratungsbedarfe für betroffene Angehörige, sofern diese aus den erlittenen Bedrohungen beispielsweise reaktive Störungen entwickelt haben oder gar Ansprüche auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz infrage kommen, über dessen Möglichkeiten ebenfalls beraten wird.

Wie oben bereits aufgeführt wird im persönlichen Kontakt mit betroffenen Menschen nach Feststellung einer psychiatrischen Erkrankung im engeren Sinne versucht, eine Beratung hinsichtlich unterschiedlicher Behandlungsoptionen und flankierender Hilfen umzusetzen, wobei freiwillig in Anspruch genommene Leistungen immer vorrangig gegenüber Zwangsmaßnahmen sein müssen.

Bei fehlender Störungseinsicht und Behandlungsbereitschaft müsste dann auch innerhalb von Beratungskontakten geprüft werden, inwieweit Maßnahmen zur Unterbringung gegen den Willen betreffender Menschen gem. NPsychKG in Situationen eines akuten und unmittelbaren Gefährdungspotenzials oder gemäß Betreuungsrecht bei darüberhinausgehend bestehender Eigengefährdung in Frage kommen. Unter Umständen kann auch über den Sozialpsychiatrischen Dienst die Einrichtung einer Betreuung im Rechtssinne im Eilverfahren angeregt werden und in diesem Zusammenhang auch auf die Notwendigkeit einer betreuungsrechtlichen Unterbringung hingewiesen werden.

WOCHENBLATT: Kann der Sozialpsychiatrische Dienst auf eine dauerhafte Einweisung in die Psychiatrie hinwirken?

Dr. Peter Schlegel: Der Sozialpsychiatrische Dienst ist als ärztlich geleitete Beratungsstelle grundsätzlich nicht geeignet, dauerhafte Einweisungen in psychiatrische Kliniken oder Institutionen zu veranlassen. Allerdings kann im Einzelfall von den im Entscheidungsprozess befindlichen Amtsgerichten eine ärztliche Stellungnahme oder ein Gutachten mit der Fragestellung einer auch längerfristigen Unterbringung angefordert werden. In den Zuständigkeitsbereich des Sozialpsychiatrischen Dienstes fällt somit in erster Linie eine fachärztliche Einschätzung zur Notwendigkeit einer Unterbringung gemäß Niedersächsischem Psychisch-Kranken-Gesetz (NPsychKG) im Sinne der akuten Gefahrenabwehr, wobei die Entscheidung über die Unterbringung in diesem Verfahren zunächst vorläufig von Mitarbeitern des Ordnungsamtes getroffen wird und dann bis zum Ablauf des Folgetages durch einen Beschluss des zuständigen Amtsgerichtes nach richterlicher Anhörung erfolgt.

Unterbringungen gem. NPsychKG sind zumeist zunächst auf einen Zeitraum von sechs Wochen in einer psychiatrischen Klinik beschränkt und können bei fortgesetztem Gefährdungspotenzial verlängert werden. Hierbei ist als Unterbringungsgrund sowohl eine Eigen- wie auch Fremdgefährdung die Eingangsvoraussetzung.

Unabhängig hiervon haben die Amtsgerichte die Möglichkeit, bei bestehenden Betreuungen im Rechtssinne auch längerfristige Unterbringungen auf betreuungsrechtlicher Grundlage auf Antrag der Betreuerin/des Betreuers zu genehmigen, wobei die Eingangsvoraussetzung hierfür immer eine Eigengefährdung und nie eine Fremdgefährdung sein muss. Die Unterbringung kann dann nach Genehmigung durch das Amtsgericht bei entsprechender Indikation von der Betreuerin/dem Betreuer in einer psychiatrischen Klinik zum Zweck der Behandlung veranlasst werden, aber auch in einer geschlossenen Wohn- oder Heimeinrichtung. Im letzten Fall muss die Erforderlichkeit der Unterbringung spätestens nach Ablauf von zwei Jahren vom Amtsgericht überprüft werden. Hierzu wird dann jeweils ein fachärztliches Gutachten eingeholt. Stellungnahmen zu längerfristigen betreuungsrechtlichen Unterbringungen gehören allerdings nicht zur Kernaufgabe des Sozialpsychiatrischen Dienstes.

Im Rahmen wiederholter Fremdgefährdungssituationen (ohne Hinweise auf eine Eigengefährdung) ist eine längerfristige Unterbringung betroffener Menschen nur in forensisch-psychiatrischen Kliniken und Einrichtungen möglich, nachdem ein entsprechender Beschluss des zuständigen Strafgerichtes ergangen ist. In der Regel erfolgt in diesem Zusammenhang im Vorwege z.B. ggf. auch während der Unterbringung in Untersuchungshaft eine fachärztliche Begutachtung zur Frage der Schuldfähigkeit und zur Kriminalprognose, auf deren Boden dann Unterbringungen in forensischen Kliniken oder Einrichtungen von den Gerichten beschlossen werden können. Auch hier gilt, dass gutachterliche Stellungnahmen nicht zur Kernaufgabe des Sozialpsychiatrischen Dienstes gehören.

Unabhängig hiervon besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass in entsprechenden Situationen für Klientinnen und Klienten des Sozialpsychiatrischen Dienstes, die unter einer schweren psychiatrischen Erkrankung leiden und somit dem sogenannten Kernklientel sozialpsychiatrischer Dienste zugeordnet werden können, unter Einbeziehung von betroffenen Angehörigen, Hilfeanbietern, aber beispielsweise auch der Polizei oder des Ordnungsamtes Netzwerkgespräche organisiert werden, um gemeinschaftlich nach Lösungsmöglichkeiten für die Problematik zu suchen, wobei im Ergebnis auch Möglichkeiten einer längerfristigen Unterbringung zunächst in einer psychiatrischen Klinik und anschließend in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung grundsätzlich diskutiert werden können.

Redakteur:

Bianca Marquardt aus Tostedt

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