Interview mit einer Psychotherapeutin
Jugendliche müssen gehört werden
cbh. Landkreis. Die Pandemie hat unser aller Leben verändert. Kinder und Jugendliche sind jedoch besonders stark von den Auswirkungen betroffen. Ein normales Leben und damit eine normale Entwicklung ist nicht möglich. Welche Auswirkungen die Pandemie mit all ihren Einschränkungen auf die Psyche der Jugendlichen hat und wie Eltern und andere Erwachsene den jungen Menschen helfen können, fragte das WOCHENBLATT die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Gundula Göbel aus Buchholz.
WOCHENBLATT: Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Gemütslage von Kindern und Jugendlichen aus?
Göbel: Wir stellen vermehrt Traurigkeit, Antriebslosigkeit, Unlust, aber auch Depressionen und depressiven Rückzug fest. Es kommt auch häufiger zu Selbstverletzungen. Einige Jugendlichen entwickeln soziale und andere Ängste, evtl. haben sie Angst vor dem Tod und Angst vor Schuld am Tod oder schwerer Erkrankung anderer. Das ist eine ungeheure Belastung. Hinzu kommt, dass sich ihr vertrauter und sicherer Rückzugsort, ihr Zuhause oder Freundeskreis, verändert hat. Auch die Eltern und Freunde sind überfordert, gestresst. Es kommt vermehrt zu Streitigkeiten, mit den Eltern, aber auch die Eltern streiten miteinander. Es herrscht oftmals eine heillose Überforderung aller.
WOCHENBLATT: Woran erkenne ich, dass mein Kind leidet?
Göbel: Es zieht sich zurück. Verbringt noch mehr Zeit vor dem PC und ist damit unzufrieden. Es nimmt nicht mehr an gemeinsamen Mahlzeiten oder dem Alltag teil. Der Tag-/Nachtrhythmus ist gestört. Es ist aggressiv, Reizbarkeit nimmt zu. Oder es ist häufig krank, hat Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Schlafstörungen. Häufige Sätze, die ich in der Praxis höre, sind: "Ich fühle mich so hilflos." - "Corona macht mich fertig." - "Ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren." - Ich bekomme eine Wut auf meinen PC."
WOCHENBLATT: Wieso Wut auf den PC?
Göbel: Weil es das einzig Verlässliche in ihrem Leben ist. Einerseits. Andererseits sehnen sie sich nach einem Leben draußen mit Freunden, Schule, Sport und Gemeinschaft. Und sie aber an den PC sich gefesselt fühlen, da es das einzige für einige Jugendliche ist, was sie ohne Angst und Aufwand tun können.
WOCHENBLATT: Aber ist der PC nicht aber ursächlich dafür, dass sie sich nicht konzentrieren können?
Göbel: Vielleicht auch, aber nicht ursächlich. Wir alle sind mit dieser Pandemie überfordert. Wir müssen ständig verändernde Regeln einhalten, uns informieren, was, wann, wo gilt. Jugendliche können die Gesichter ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen weniger gut lesen", weil alle Maske tragen. Jugendliche werden viel reglementiert, sind verunsichert, haben Angst vor Ansteckung, Krankheit, erleben Leistungsdruck. Dadurch befinden Jugendliche und wir alle uns ständig im Stress. Und haben wenig Chance, diesen abzubauen. Normalerweise würden wir uns zur Entspannung mit Freunden treffen, Essen gehen, Sport mit anderen treiben, Tanzen, Spaß haben uns umarmen, uns nahe sein. Diese Kompensation findet nicht statt. Und das stört auf Dauer unsere Konzentration. Bei allen.
Es fehlt ein verlässliches Entwicklungsumfeld
WOCHENBLATT: Welche Auswirkungen hat diese Corona-Situation auf die Persönlichkeitsentwicklung, auf Sozialkompetenz, Freundeskreis, sexuelle Erfahrungen von Jugendlichen?
Göbel: Jugendlichen fehlt ein sicheres verlässliches Entwicklungsumfeld, um Selbstsicherheit zu entfalten. In der Gruppe, mit anderen Menschen, wird unser Verhalten gespiegelt, entwickelt sich Empathie, Autonomie, Eigenständigkeit. Wir erhalten eine Resonanz. Das alles findet jetzt nicht statt. Die Übungsfelder fehlen. Auch Sexualität entwickelt sich nicht mit Spontanität, ist oft von Angst begleitet. Ist der mögliche Freund, Freundin geimpft, getestet, sind die Eltern geimpft, getestet? Wenn nicht, welche Lösungen gibt es? Alles Fragen, die beantwortet werden müssen, bevor es überhaupt zu einer ersten Annäherung kommt. Und gerade unbeschwerte Nähe ist so wichtig für uns Menschen. Leichtigkeit, Nähe, Berührungen, Wärme. Meine Kollegin Irmin Eckhard hat es mit dem Satz: „Angst ist zum Erziehungsbegleiter geworden statt des Vertrauen in die Entwicklung der Jugendlichen“ klar formuliert.
WOCHENBLATT: Aber war die Situation in den 80er/90er-Jahren mit HIV nicht ähnlich?
Göbel: Ähnlich, aber nicht vergleichbar. Bei HIV ging es um die Ansteckung beim Geschlechtsverkehr, eine Weile hatte man auch Angst, man könnte sich über das Benutzen desselben Geschirrs anstecken. Das war aber schnell aus der Welt. Auch wenn der ungeschützte Geschlechtsverkehr mit Ängsten behaftet war, man konnte sich dennoch einander unbeschwert nähern, berühren, küssen, streicheln. Das Elementarste, Wichtigste also blieb erhalten. Das ist jetzt mit Corona anders.
WOCHENBLATT: Wie können Eltern ihrem Kind durch diese Zeit helfen?
Göbel: Im Gespräch bleiben, zuhören. Fragen, was das Kind beschäftigt, wovor es sich fürchtet oder woran es Freude hat. Erwachsene haben häufig gute Ratschläge parat, viel wichtiger ist es aber, zuzuhören. Dann sollte möglichst wenig über Leistung diskutiert werden. Darüber kommt es häufig zu Konflikten. Es sollte überlegt werden, was man alles - vielleicht sogar gemeinsam - unternehmen kann, nicht nur darüber reden, was alles nicht geht. Insgesamt den Fokus auf das Positive im Leben legen. Vielleicht ist es möglich, über ein Haustier oder eine Patenschaft im Tierheim zu sprechen. Man sollte unbedingt eine gemeinsame Mahlzeit am Tag einnehmen - und währenddessen NICHT über Corona oder andere Probleme reden.
WOCHENBLATT: Wenn Eltern selbst überfordert sind und nicht helfen können, an wen kann sich der Jugendliche wenden?
Göbel: In der Schule an den Klassenlehrer oder Vertrauenslehrer. Beratungsstellen, Kinderschutzbund, Sorgentelefon ist 24 Stunden am Tag erreichbar. Ab 15 Jahre kann der junge Mensch auch eigenständig einen Therapeuten aufsuchen. Manchmal hilft aber auch ein Gespräch mit einem vertrauten Nachbarn, einem Verwandten oder mit Freunden. Wichtig ist, dass der Jugendliche erzählen kann, was ihn bedrückt, und dass ihm zugehört wird. „Jugendliche brauchen während dieser Pandemie eine Stimme, Erwachsene ein offenes Ohr“!
Podcast mit dem GAK
Das Gymnasium am Kattenberge in Buchholz produziert unter der Leitung von Lehrer Christoph Reise zum Thema Corona und Jugendliche einen eigenen Podcast mit der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Gundula Göbel. Hier wird noch umfassender auf das Thema eingegangen. Vor allem aber, so Gundula Göbel, "werden Jugendliche mit ihren Sorgen im Mittelpunkt stehen. Fragen, wie: Wie komme ich ins Handeln?, Umgang mit Veränderungen und der Krise stehen im Vordergrund." Der Podcast "gaktuell" erscheint am 15. Februar auf YouTube, Spotify und Amazon Music
Redakteur:Christine Bollhorn aus Buchholz |
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