Zahnärzte streiken
Mund auf, Praxis zu! Situation in Zahnarztpraxen

Am Dienstag, 18. Juni, findet der Streiktag der Zahnärzte statt | Foto: pikselistockphoto.comvitamindoctor
  • Am Dienstag, 18. Juni, findet der Streiktag der Zahnärzte statt
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Aus Protest gegen die aktuelle Gesundheitspolitik und ihre Auswirkungen schließen in Niedersachsen Zahnärztinnen und Zahnärzte am Dienstag, 18. Juni, ihre Praxen. „Wir machen den Mund auf und die Praxis zu. Es reicht: Zu viel Bürokratie, zu wenig Geld für Prävention, Budgetierung, Inflation, keine Änderungen im privaten Gebührenrecht. Das ist zusammen ein giftiger Cocktail, der viele Zahnärztinnen und Zahnärzte verzweifeln lässt“, sagt der Präsident der Zahnärztekammer Niedersachsen (ZKN), Henner Bunke. Eine flächendeckende zahnärztliche Versorgung, wie es sie bislang gab, sei unter den desaströsen politischen Rahmenbedingungen kaum noch zu gewährleisten.

Das Fundament der flächendeckenden Versorgung

60 Prozent der zahnärztlichen Praxen in Niedersachsen sind Einzelpraxen. „Sie sind das Fundament unserer flächendeckenden Versorgung in Niedersachsen“, erklärt Dr. Jürgen Hadenfeldt, Vorsitzender des Vorstandes der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KZVN). Doch inzwischen berichteten viele selbstständige Kolleginnen und Kollegen, dass sie nicht mehr wissen, ob sie im kommenden Jahr ihre Praxis noch fortführen können. „Gerade in vielen ländlichen Regionen unseres Flächenlandes wird das zu problematischen Veränderungen in der Versorgung führen“, so Hadenfeldt. Schon heute könnten Praxen, deren Inhaber altersbedingt ausscheiden, kaum mehr nachbesetzt werden.

Patientenversorgung ist gefährdet

„Die wohnortnahe Patientenversorgung ist gefährdet wie nie zuvor. Die Praxen stoßen täglich an ihre Grenzen und können die gewohnte Versorgung auf Dauer nicht mehr leisten – und die Politik schweigt“, erklärt Dr. Markus Braun, Vorsitzender des Landesverbands Niedersachsen des Freien Verbands Deutscher Zahnärzte (FVDZ). „Praxen schließen, Wartezeiten verlängern sich, Leistungen werden eingeschränkt. Das besorgt auch unsere Patientinnen und Patienten.“ Dr. Braun fordert von der Politik unter anderem einen dringend notwendigen Bürokratie-Abbau. „Durchschnittlich 51 Arbeitstage pro Jahr werden in Praxen nur für Verwaltungstätigkeiten aufgewendet. Zeit, die wir lieber mit unseren Patientinnen und Patienten und deren Versorgung verbringen.“

Wichtig für Allgemeingesundheit

„Zahnmedizin ist nicht Nice-to-have-Medizin, sondern wichtig für die Allgemeingesundheit. Zahnärzte sind deshalb auch keine Ärzte zweiter Klasse“, betonte Dr. Tilli Hanßen, Stellvertretende Vorsitzende des Verbands Zahnärzte für Niedersachsen (ZfN). Von der versorgungsfeindlichen Gesundheitspolitik besonders betroffen sei insbesondere die präventionsorientierte Parodontitistherapie. Parodontitis, eine Erkrankung, von der mehr als die Hälfte aller Erwachsenen in Deutschland betroffen sind, nimmt unter anderem Einfluss auf schwere Allgemeinerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und rheumatische Erkrankungen. Durch unbehandelte Parodontitis entstehen hohe Folgekosten für das Gesundheitssystem.
Für den 18. Juni rufen ZKN, KZVN sowie die beiden Verbände die niedersächsischen Zahnärztinnen und Zahnärzte dazu auf, aus Protest ihre Praxen zu schließen und stattdessen ein Fortbildungsangebot zu nutzen. Für Notfälle ist eine Notfallbereitschaft organisiert. Näheres zum Protest und den Hintergründen erfahren Interessierte auf der Internetseite www.mundauf.info

Forderungen und Argumente

1. Forderung: Praxissterben verhindern – flächendeckende Versorgung sichern
Die Rahmenbedingungen der ambulanten zahnärztlichen Versorgung müssen so ausgestaltet sein, dass die Niederlassung und Berufsausübung für Zahnärztinnen und Zahnärzte (auch im ländlichen Raum) attraktiv bleiben.

Bürokratie und Dokumentationspflichten
• Weniger Prüfbürokratie wagen. Sie frisst Zeit, Geld und Nerven, aber niemand hat etwas davon.
  Im Gegenteil: Jeden Tag sind ganze Praxisteams mit unnötiger Dokumentation befasst, die zu Lasten
  der Patientenbehandlung geht.
• Reduzierung von Dokumentationspflichten, Stichwort: Negativdokumentation
• Maßnahmenkatalog des Nationalen Normenkontrollrates endlich umsetzen
• Kleine Praxen werden besonders stark getroffen. 60 Prozent der Praxen
  in Niedersachsen sind  Einzelpraxen
Digitale Anwendungen/Telematik
• Digitale Anwendungen sollten nicht zu mehr Aufwand in den Praxen führen
• Telematik-Anwendungen müssen vor Roll-Out ausreichend getestet sein
Planungsunsicherheit für Neugründer
• Angemessene Vergütungen in GKV und PKV
• Steigende Energie- und Personalkosten
• Rund halbe Million Euro Kosten bei Neugründung/hohe Investitionskosten
   im zahnmedizinischen Bereich
Personalmangel
• Angemessenen Lohn durch angemessene Vergütung zahnärztlicher Leistung sichern
• Attraktive Bedingungen für Assistenzpersonal dringend notwendig mit
  Blick auf allgemeinen Fachkräftemangel
• Personal nicht zusätzlich durch neue Systeme (Gesundheitskiosk) „abwerben“
• Durch eingeschränkte Behandlungszeiten finden Patienten zunehmend keine Behandler mehr

2. Forderung: Budgetierung aufheben: Zahnärztliche Leistungen voll bezahlen!
Die mit dem GKV-FinStG beschlossenen Sparmaßnahmen – Kürzung der Punktwerte und Wiedereinführung der strikten Budgetierung – werden erhebliche Folgen für die derzeit noch stabilen flächendeckenden, wohnortnahen zahnärztlichen Versorgungsstrukturen mit sich bringen.

Nicht alle zahnärztlichen Leistungen werden voll vergütet

• Budgetierung abschaffen, um wirtschaftliche Risiken zu minimieren
• siehe auch „Planungssicherheit für Neugründer“: Budgetierung macht
  Selbstständigkeit im ländlichen Raum zunehmend unattraktiv
• Der freie Beruf des Zahnarztes muss attraktiv bleiben, sonst drohen Lücken in der
  Versorgung, vor allem in den Dörfern und Kleinstädten

Budgetierung entzieht Prävention die nötigen Mittel
• Parodontitis-Therapie darf nicht Opfer der Budgetierung werden; Volkskrankheit
  mit bekannten Wechselwirkungen zu anderen Erkrankungen
• Bei Präventionsmaßnahmen darf nicht der Rotstift angesetzt werden, sonst
   werden die Gesundheit der Betroffenen und steigende Folgekosten riskiert.

3. Forderung: Bürokratie in Praxen abbauen
Der Versorgungsalltag in zahnärztlichen Praxen wird durch eine Flut von Verwaltungsaufgaben und wachsenden regulatorischen Maßnahmen beschnitten. Dadurch sinkt die Zeit, die für die eigentliche Behandlung zur Verfügung steht. Dies hat eine abschreckende Wirkung auf den beruflichen Nachwuchs
Problem

Überbordende Bürokratie
• Unnötige bürokratische Auflagen abschaffen
• Steigende Personalkosten auch durch mehr Personal, welches steigende Bürokratie
  bewältigen muss

Auswahl konkreter Maßnahmen zum Bürokratieabbau:
• Anerkennung einer einzigen Tagesabschlussdokumentation für die Aufbereitung von
  Medizinprodukten anstatt der belastenden Erstellung zahlreicher Einzeldokumentationen.
• Reduktion nicht-anlassbezogener Überwachungen der Medizinprodukte-Aufbereitung,
  des Infektionsschutzes sowie der Arbeitssicherheit und des Arbeitsschutzes in Umfang und Tiefe.
• Kosten- und Zeitaufwändige e-checks ohne Anlass abschaffen
• Kosten- und Zeitaufwändige STK Prüfungen (Behandlungseinheiten) abschaffen
• Re-Validierungszeiträume ohne Zwischenfälle/Anlässe ausweiten

1. „Aber Zahnärzte verdienen doch genug“
Um die flächendeckende Versorgung dauerhaft zu sichern, muss die Bereitschaft junger Zahnärztinnen und Zahnärzte zur eigenen Niederlassung erhalten bleiben. Wenn es keinen Anreiz gibt, den Mehraufwand und das unternehmerische Risiko einer Selbstständigkeit auf sich zu nehmen, werden immer mehr Praxisstandorte gerade im ländlichen Raum wegfallen, weil die Versorgung hier von Einzelpraxen getragen wird.

Annahme der Bürger: Zahnärzte verdienen viel, fahren Porsche und spielen Golf. Die Realität sieht anders aus:
• Hohe Investitionen, Betriebs- und Modernisierungskosten in den Praxen
• Zahnarztpraxen sind modern ausgerichtet, Geräte müssen immer schneller modernisiert werden,
  Digitalisierung führt zu immer kürzeren Halbwertszeiten von Ersatzinvestitionen
• Wirtschaftliches Risiko muss durch ausreichende, dynamisierte Vergütung honoriert werden,
  um Anreize für Niederlassung zu schaffen.
• Niedergelassene Zahnärztinnen und Zahnärzte haben keine 38-Stunden-Woche bei vollem
  Lohnausgleich, sondern arbeiten häufig 50 bis 60 Stunden pro Woche

2. GOZ-Punktwert endlich anheben
Der GOZ-Punktwert ist seit mittlerweile über 35 Jahren unverändert geblieben. Dabei wäre eine Anpassung des GOZ-Punktwertes angesichts hoher Energie-, Material-, Hygiene- und Digitalisierungskosten sowie einer neuerdings hohen Inflationsrate notwendiger denn je. Dazu sollte eine jährliche Anpassung an die Kostenentwicklung erfolgen.

Annahme: Beim Zahnarzt zahle ich doch eh immer alles selbst
• Von der Gesetzlichen Krankenversicherung werden Basisleistungen bezahlt.
   Keramikfüllungen etwa sind keine Kassenleistung.
• Das, was dabei abgerechnet werden kann, ist seit über 35 Jahren das gleiche – egal, ob
   jetzt die Assistenz doppelt so viel verdient oder die Materialien deutlich mehr kosten.
• Anhebung des GOZ-Punktwertes unter Berücksichtigung von Lohn-Energie-, Material-, Hygiene-
   und Digitalisierungskosten sowie der hohen Inflationsrate notwendig.

Redakteur:

Axel-Holger Haase aus Buchholz

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