Seit sieben Jahren verschwunden
Noch immer keine Spur von Familie Schulze aus Drage
Ein rotes Backsteinhaus in der Hein-Block-Straße in Drage. Hier hat sich vor sieben Jahren einer der spektakulärsten Kriminalfälle in der Region ereignet: das Verschwinden der Familie Schulze. Am Samstag, 23. Juli, jährte sich der Tag, an dem sich nach Erkenntnissen der Ermittler ein furchtbares Familiendrama in der Elbmarsch abgespielt hat, zum siebten Mal. Bis heute fehlt von Mutter Sylvia Schulze (damals 43 Jahre alt) und ihrer Tochter Miriam (damals zwölf) jede Spur.
Das Wohnhaus der Schulzes ist lange verkauft. Damals noch von der Straße aus frei einsehbar, ist es heute durch einen Zaun und einer hohen Hecke abgegrenzt, nahezu versteckt. Der dichte Bewuchs sendet die Botschaft "Lasst uns in Ruhe" aus. Denn die neuen Besitzer wollen nicht mit der Presse über das sprechen, was vor dem Kauf im Haus passierte. Und auch die Nachbarn möchten nicht mehr über das Verbrechen sprechen, sind abweisend. Nur eine Frau, die allerdings anonym bleiben möchte, erzählt: "Am Tag vor dem Unglück habe ich die Familie noch gesehen. Nichts deutete darauf hin, dass sich in Kürze ein Drama ereignen würde. Am nächsten Tag stand dann plötzlich ein Streifenwagen vor dem Haus. Da haben wir uns schon gewundert, was dort los ist. Fragen konnten wir natürlich niemanden. Und mit so etwas rechnet man ja auch nicht. Wir waren alle erschüttert, als wir die Vermisstenmeldung gehört haben."
Bereits einen Tag später rückte ein großes Polizeiaufgebot an - die Suche nach der Familie begann. Und mit der Polizei kamen auch Journalisten, nicht nur aus der Region, sondern aus ganz Deutschland. "Es wurde an der jeder Haustür geklingelt, jeder wollte was wissen. Wir und die anderen Nachbarn waren nachher einfach nur noch genervt", sagt die Frau. Zumal der Presserummel nicht aufhörte. "Immer zum Jahrestag des Verschwindens tauchen hier Reporter auf", klagt sie. "Aber vielleicht hört es irgendwann mal auf."
Journalisten aus ganz
Deutschland kamen nach Drage
Ein Rückblick:
Am 23. Juli 2015 wird die gesamte Familie Schulze als vermisst gemeldet. Die Polizei findet im Wohnhaus keine Hinweise auf einen Aufenthaltsort, wohl aber die Geldbörsen der Familie sowie wichtige Papiere. Sofort laufen diverse Suchaktionen an, die aber alle im Sande verlaufen. Auch eine Öffentlichkeitsfahndung und ein Beitrag in der TV-Sendung "Aktenzeichen XY" bringt keine brauchbaren Hinweise.
Neun Tage nach dem Verschwinden wird Vater Marco Schulze (41) tot aus der Elbe bei Lauenburg gezogen. Die Polizei legt sich schnell fest: Suizid. Doch von Sylvia und Miriam gibt es keine Spur. Die Ermittler gehen davon aus, dass Vater Marco die beiden ermordet und an einen unbekannten Ort gebracht hat, bevor er sich das Leben nahm. Die Hintergründe sind bis heute unklar. Zwar kann die Polizei ausschließen, dass es im Wohnhaus zu einem Verbrechen kam. Doch der damalige und mittlerweile pensionierte Soko-Leiter Michael Düker sagte seinerzeit: "Wir haben im Haus Hinweise gefunden, die unseren Verdacht bestätigen." Welche das sind, darüber schweigt die Polizei bis heute.
Die Ermittlungsakten zum Fall Schulze liegen noch immer beim Fachdezernat der Polizeiinspektion Harburg. Derzeit hat die Polizei aber keine neuen Spuren. "Wir erhalten zwar hin und wieder Hinweise, die von uns bewertet werden. Aber eine heiße Spur gibt es bisher nicht", so Polizeisprecher Jan Krüger auf WOCHENBLATT-Nachfrage. Die letzte bekannte Spur, die allerdings auch ins Leere lief, war der Fund eines menschlichen Knochens am Elbufer in Stove. Nach langwierigen Untersuchungen war aber klar, dass dieser weder von Sylvia noch von Miriam Schulze stammt.
Der Fall ist noch
lange kein Cold Case
Nach dem Verschollenheitsgesetz (VerschG) kann Sylvia Schulze von ihren Hinterbliebenen frühestens 2027 für tot erklärt werden. Anders verhält es sich im Fall von Miriam. Sie kann frühestens in dem Jahr für tot erklärt werden, in dem sie das 25. Lebensjahr vollendet hätte. Das wäre 2029.
Bis dahin könnte es sein, dass der Fall als Cold Case vom zuständigen Dezernat bei der Polizeidirektion (PD) Lüneburg bearbeitet wird. Das Sachgebiet ist vor allem durch die Ermittlungen im Fall der sogenannten Göhrde-Morde öffentlich bekannt geworden. Ob und wann ein Fall allerdings zum Cold Case taugt, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. "Zunächst werden von dem Fall alle Akten zusammengetragen und - wenn noch nicht geschehen - digitalisiert", erklärt Julia Grote, Sprecherin der PD Lüneburg. "Anschließend werden die vorhandenen Asservate begutachtet und geschaut, ob es moderne Untersuchungsmethoden dafür gibt." Das gelte vor allem für einen möglichen DNA-Abgleich bei den gefundenen Spuren.
Insgesamt 52 ungeklärte Tötungsdelikte und neun Vermisstenfälle gebe es im Bereich der Polizeiinspektion. Die sechs Ermittler im Cold Case-Sachgebiet würden diese immer wieder neu bewerten. "Wenn die Kollegen neue Ermittlungsansätze finden, wird ein Fall neu aufgerollt, wie z.B. aktuell der Mord von 1989 an Gitta Schnieder in Holm-Seppensen", so Grote.
Grundvoraussetzung für die Übernahme eines Falls durch die Cold-Case-Ermittler ist aber, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen in der Sache abgeschlossen hat. Und das ist bei Sylvia und Miriam Schulze auch nach sieben Jahren noch nicht der Fall.
• Zeugen, die sich bisher noch nicht bei der Polizei gemeldet haben und Angaben zum Schicksal von Sylvia und Miriam Schulze machen können, werden gebeten, sich unter Tel. 04181 - 2850 bei der Polizeiinspektion Harburg zu melden.
Der Fall der verschwundenen Familie Schulze im Überblick:
Auf der Suche nach Sylvia und Miriam Schulze haben die Beamten für den 22. Juli 2015, den Tag, an dem die Familie das letzte Mal gesichert gesehen wurde, eine Art "Timeline" erstellt.
6.50 Uhr: Nachbarn sehen die Familie beim Frühstück am Küchentisch sitzen.
7.40 Uhr: Vater Marco fährt mit dem Familienauto, einem grauen Dacia Sandero, weg. Wohin, ist bis heute unklar. Fakt ist, dass ihn eine Zeugin zehn Minuten später im vier Kilometer entfernten Stove sieht, wo er wieder Richtung Drage fährt.
8.15 Uhr: Mutter Sylvia meldet Tochter Miriam auch für den letzten Schultag vor den Sommerferien in der Schule krank. Dort fehlt das Kind bereits seit über einer Woche.
10 Uhr: Sylvia fährt zur Arbeit nach Geesthacht. Vater Marco hat frei und bleibt zu Hause bei der Tochter. Bereits einen Tag zuvor hatte die Mutter Miriams Schulspind ausgeräumt und Bücher abgegeben. Der Grund ist für die Polizei bis heute ein Rätsel.
13.45 Uhr: Sylvia Schulze erhält von ihrem Mann eine SMS, dass es Miriam wieder schlechter gehe. Er bittet seine Frau, nach Hause zu kommen. Sylvia Schulze muss allerdings erst auf eine Ablösung warten und kann um 16.20 Uhr ihre Arbeitsstelle verlassen.
16.50 Uhr: Sylvia Schulze kommt zu Hause an. Ihr Handy loggt sich in das heimische WLAN-Netz ein.
17.25 Uhr: Marco Schulze bekommt einen Anruf vom Reiterhof, auf dem er einen Aushilfsjob hat. Er wird gefragt, ob er am nächsten Tag arbeiten könne. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit sagt er aber nicht sofort zu, sondern zögert mit der Antwort. "Vielleicht wusste er da schon, dass irgendwas passieren wird", sagt Polizeisprecher Jan Krüger.
19.30 Uhr: Marco Schulze wird auf dem Reiterhof gesehen, wie er einen Stall ausfegt.
19.33 Uhr: Marco Schulze ruft seinen Schwiegervater zurück, der zwischenzeitlich angerufen hatte. Schulze sagt, seine Frau und seine Tochter würden bereits schlafen.
20.58 Uhr: Das Handy von Marco Schulze meldet sich aus dem Funknetz ab.
Ebenso unklar wie das Schicksal von Mutter und Tochter ist der Wahrheitsgehalt einer Aussage einer Zeugin, die die Familie am Tag ihres Verschwindens am Seppenser Mühlenteich in Buchholz gesehen haben will. Dabei hörte die Frau mehrfach einen Namen für die in der Nähe lebende ältere Tochter von Sylvia Schulze, der nur von der Familie benutzt wurde. Wenig später hörte sie Schreie. „Was soll das? Spinnst du?“ und „Papa, lass das“, sagte die Zeugin später der Polizei. Dann habe sie einen Knall gehört, als ob ein Luftballon zerplatzen würde. Da diese Beobachtung zeitlich überhaupt nicht in den rekonstruierten Tagesablauf passt, gehen die Beamten davon aus, dass sich die Zeugin im Tag geirrt hat.
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