Landkreis Harburg
Zwei Gemeinden klagen gegen den Schilder-Irrsinn
Überall wird mehr Verkehrsberuhigung gefordert, um Menschen vor Lärm und Abgasen zu schützen, aber der Landkreis Harburg geht einen anderen Weg: Er lässt nach und nach in den Gemeinden die Ortsschilder so versetzen, dass Teile der Bebauung und Infrastruktur plötzlich außerhalb der Ortschaft liegen und davor dementsprechend schneller gefahren werden darf. Damit befassen sich zwei leitetende Angestellte der Kreisverwaltung, Mitarbeiter des Betriebs Kreisstraßen - und nun auch ein Rechtsanwalt. Denn die Gemeinden Welle und Wistedt wollen sich den Schilder-Irrsinn nicht gefallen lassen.
Die Ortsschilder in Welle wurden zum Beispiel so versetzt, dass Schulkinder gefährdet oder die Feuerwehr bei Einsatzfahrten behindert worden wären. Nach Intervention des Bürgermeisters und der Berichterstattung im WOCHENBLATT wurden nun zumindest vor der Windmühle und vor der (Schul-)Bushaltestelle in der Dorfstraße 50-km/h-Schilder anstelle der dort zuvor entfernten Ortsschilder aufgestellt. Ohne Versetzen der Ortstafeln hätte man sich Ärger und Steuergeld sparen können. Aber das reicht der Gemeinde Welle nicht: "Tempo-50-Schilder haben nicht die gleiche Wirkung wie die Ortstafeln", sagt Bürgermeister Gerd Schröder.
Der Landkreis beruft sich beim Versetzen der Ortsschilder auf die Straßenverkehrsordnung. Demnach sollen Ortstafeln "an den Grenzen der geschlossenen Ortschaften aufgestellt werden, also dort, wo auf einer der beiden Straßenseiten, ungeachtet einzelner unbebauter Grundstücke, die zusammenhängende Bebauung beginnt oder endet. Einzelne Grundstücke oder Stichstraßen zur Hauptstraße sind dabei nicht zu berücksichtigen."
Einwände der Bürgermeister
wurden nicht gehört
Welles Bürgermeister Gerd Schröder ist pensionierter Polizeibeamter, war also jahrzehntelang auch für die Verkehrssicherheit zuständig. Welche Gefahren von zu hohen Geschwindigkeiten im Verkehr ausgehen, weiß auch Wistedts Bürgermeister Sven Bauer, der als haupt- und ehrenamtlicher Feuerwehrmann oft genug mit Unfallfolgen konfrontiert ist. Ihren fachlichen Einwänden bei den Ortsbegehungen mit Polizei, Landkreis und Straßenverkehrsbehörde wurde dennoch keine Beachtung geschenkt.
"Das Versetzen von fünf Ortstafeln im vergangenen August führte zu erheblicher Unruhe in der Bevölkerung. Mein Telefon als Nichtverantwortlicher stand einige Zeit kaum noch still", schimpft Welles Bürgermeister Gerd Schröder. Mit einem mehrseitigen (Beschwerde)-Brief an Landrat Rainer Rempe erreichte er einen weiteren Ortstermin mit Annerose Tiedt und Susanne Wermuth vom Landkreis, an dem neben ihm auch die Ratsherren Gerhard Brenning und Marko Braack sowie Rechtsanwalt Thomas Rieche teilnahmen.
Ergebnis: Statt die Ortsschilder wieder an den alten Platz zu versetzen, wurden an der Mühle in Kampen 70- und 50-km/h-Schilder aufgestellt. Das außerhalb der Ortschaft verbotene Parken am Fahrbahnrand soll künftig durch Sondergenehmigungen für Trauungen und andere Festlichkeiten an der Mühle ausnahmsweise erlaubt werden. Außer einem neuen 50 km/h-Schild in der Dorfstraße, wo zuvor das Ortsschild stand, solle demnächst die Ortstafel an der L141 an die alte Stelle versetzt werden.
Auch der "Kompromiss"
sorgte für Unruhe
"Diesen 'Kompromiss' habe ich in der Ratssitzung Ende November vorgestellt. Die Unruhe und das Unverständnis über diese sinnentleerten Maßnahmen war jedoch immer noch so groß, dass man sich mit dem Erreichten auf keinen Fall zufrieden geben wollte. Nachdem unser Rechtsbeistand kurz die Möglichkeiten der Klage auch anhand von Beispielurteilen aufgezeigt hatte, wurde diese gegen drei Ortstafelversetzungen (Mühle/Am Schützenplatz/Dorfstraße) beschlossen", so der Weller Bürgermeister.
In der Gemeinde Wistedt wurden die Ortstafel-Versetzungen bisher nur "angedroht". Die beabsichtigten Versetzungen sehen die Ortskundigen dort aber ebenfalls als Schildbürgerstreich an. "Der beauftragte Rechtsbeistand soll zunächst versuchen, im Rahmen einer erneuten Stellungnahme einen Erfolg zu erzielen. Sollten die Argumente der Gemeinde Wistedt erneut nicht gehört werden und eine Umsetzung erfolgen, werden wir den Rechtsweg beschreiten", teilt Wistedts Bürgermeister Sven Bauer mit. Grünes Licht für die Klagen gibt es von beiden Gemeinderäten.
Auch andere Kommunen
sind betroffen
• Im Oktober 2021 waren in der Gemeinde Appel zwei Ortschilder ca. 100 Meter in Richtung Ortsmitte versetzt worden. Ergebnis: Ein Schild steht jetzt von Bäumen verdeckt zehn Meter vor einer Hauseinfahrt, das Zweite wurde hinter der Kurve am Ortseingang aufgestellt mit der Folge, dass jetzt aus beiden Richtungen kommend die gefahrene Geschwindigkeit am Ortseingang bedeutend höher ist.
• Im Mai 2022 wurde in Buchholz das Ortseingangsschild von der Kreuzung Nordring / Vaenser Weg / Am Haberkamp deutlich weiter in Richtung des Fachmarktzentrums versetzt. Zuvor stand das Ortseingangsschild in Höhe der besagten Kreuzung, ab dort galt in Richtung Kreisel Tempo 50. Jetzt ist Tempo 70 bis kurz vor dem Kreisel erlaubt. Radfahrer und Fußgänger, die den Nordring vom Vaenser Weg aus kommend queren wollen, müssen sich auf deutlich schneller fahrende Autos einstellen.
Auf ein Wort:
Die Kreisverwaltung hat andere "Baustellen" abzuarbeiten
Hat die Kreisverwaltung angesichts eines Sanierungsstaus bei Kreisstraßen und Schulen wirklich nichts anderes zu tun, als zwei hochbezahlte Mitarbeiterinnen der Kreisverwaltung auf die Ortsschilder „anzusetzen“? Statt sich mit wichtigeren Dingen im Sinne der Bürger zu beschäftigen, wiehert der Amtsschimmel und werden Steuergelder vernichtet.
Auch wenn sich die Kreisverwaltung auf Paragrafen der Straßenverkehrsordnung beruft, muss doch die Vernunft siegen: Am Beispiel Welle zeigt sich, dass gewachsene Strukturen – ländlich geprägte Dörfer mit landwirtschaftlichen Flächen zwischen der Bebauung – ignoriert werden. Ebenso die Berufserfahrung und Ortskenntnis des Bürgermeisters.
Auf berechtigte Einwände wird mit Ausnahmeregelungen für das Ausflugsziel und Standesamt Windmühle reagiert, um weitere Verwaltungsmitarbeiter zu beschäftigen. Oder steckt dahinter womöglich eine Beschäftigungsstrategie für nicht ausgelastete Behördenvertreter?
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) lehnte jüngst ein durchgehendes Tempo 130 auf Autobahnen ab mit der Begründung, es gebe dafür nicht genügend Verkehrsschilder. Vielleicht sollte er mal beim Landkreis Harburg nachfragen: Wo so viele Tempo-70- und 50-Schilder im Bestand sind, um den Fehler von versetzten Ortsschildern zu heilen, gibt es vielleicht noch genügend Schilder mit anderen Zahlen darauf.
Bianca Marquardt
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