Ein Insider erklärt die Misere
Seniorenheime kämpfen mit vielen Problemen

"Über den Pflegenotstand und Seniorenheime in Existenzkrisen denken Menschen erst nach, wenn sie selbst oder Angehörige betroffen sind", kritisieren Menschen, die in der Pflege arbeiten | Foto: pixabay sarcifilippo
  • "Über den Pflegenotstand und Seniorenheime in Existenzkrisen denken Menschen erst nach, wenn sie selbst oder Angehörige betroffen sind", kritisieren Menschen, die in der Pflege arbeiten
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"Es wundert mich, dass es nicht viel mehr Schlagzeilen und Beunruhigung in der Bevölkerung gibt. Die Menschen interessieren sich erst für dieses Thema, wenn sie selbst betroffen sind." Diese Sätze sagt der Leiter eines Seniorenheims*. Er sieht die Branche in einer Krise von unvorstellbarem Ausmaß. Dorea und Convivo, zwei große Pflegeunternehmen, die auch in den Kreisen Stade und Harburg Heime unterhielten, sind ganz oder in Teilbereichen in die Insolvenz geraten. Der Experte, mit dem das WOCHENBLATT gesprochen hat, nennt schonungslos die Probleme und zeichnet ein düsteres Bild. Die Redaktion hat ihm Anonymität zugesichert.

Die Pleitewelle, die große Anbieter wie kleine Private mit voller Wucht trifft, habe vor allem zwei miteinander verbundene Ursachen: fehlende Auslastung und fehlendes Personal. "Ein Heim muss ungefähr zu 90 Prozent ausgelastet sein, damit es sich trägt", so der Fachmann. Fehlt dafür aber das Personal, bleiben Zimmer leer - die Einnahmen gehen in den Keller. "Vom 90-Prozent-Ziel sind wir fast alle weit entfernt." Steigende Nachfrage trifft auf eine Verknappung des Angebots. "Wir könnten mehr Senioren aufnehmen, nur leider fehlt es an den Mitarbeitenden."

Die Arbeit wird inzwischen gut bezahlt

Schließen anderswo Einrichtungen, klingelt auch bei diesem Heimleiter das Telefon. Die Heimaufsicht, das ist der Landkreis, fragt nach freien Plätzen. "Meine Antwort lautet immer - gerne, wenn Sie das Personal mitliefern."

Dass die Arbeit in der Altenpflege ein mies bezahlter Job sei, stimme überhaupt nicht mehr, betont der Heimleiter. "Davon kann man inzwischen gut leben", sagt er. Durch die jüngsten gesetzlichen Vorgaben sei das Gehalt der Fachkräfte um bis zu 1.000 Euro im Monat gestiegen. Problem dabei: Die Refinanzierung der höheren Lohnkosten wurde nicht komplett geregelt.

Einfache Rechnung: Wenn ein Heim mit 100 Mitarbeitenden jedem 1.000 Euro mehr zahle, dann sind das am Monatsende 100.000 Euro zusätzliche Kosten. Das wiederum hat zur Folge, dass der Eigenanteil der Bewohner steigt: Deutschlandweit liegt er bei 2.800 bis 3.200 Euro, so der Experte.

Diese Summe können sich viele Senioren oder ihre Angehörigen nicht mehr leisten. Obwohl die Betroffenen eigentlich einen Heim-platz bräuchten, werden sie nicht angemeldet. "Dadurch verändert sich unsere Klientel", sagt der Heimleiter. Die Menschen kommen deutlich später, meist sehr viel kranker und bleiben bis zu ihrem Tod kürzer in den Einrichtungen. Was wiederum heißt: höherer Pflegeaufwand bei kürzerer Verweildauer - unterm Strich also weniger Einnahmen.

"Und häufig führt das zu Dramen im Zuhause der Senioren", sagt der Insider. "Wir haben Opa immer eingeschlossen, damit er nicht wegläuft", sei eine Antwort, die er schon häufiger gehört habe, wenn ein dementer Mensch doch irgendwann ins Heim muss. "Das ist Freiheitsberaubung", sagt der Fachmann.

Schule und Praxis nicht gut verzahnt

Dass die fehlenden oder auch abgewanderten Fachkräfte bald durch Nachwuchs ersetzt werden, glaubt der Mann nicht. Die Neuregelung der Ausbildung sei eine Katastrophe. Alten-, Kinder, und Krankenpfleger lernen jetzt gemeinsam. "Wofür bitte muss eine angehende Altenpflegerin auch in einer Kita gearbeitet haben?" Vielleicht ja gut gemeint, am Ende aber schlecht gemacht. So sei es vorgeschrieben, dass die Azubis einen Praxisanleiter brauchen, der immer im Haus sein müsse. Dafür ist eine einjährige Zusatzqualifikation notwendig. "Für vier Azubis brauche ich zwei Anleiter." Wenn einer das Haus verlasse, sei guter Rat teuer. Zudem würden schulische und praktische Inhalte nicht gut aufeinander abgestimmt sein.

"Ich habe unsere Auszubildenden immer eng an das Haus gebunden und mich auch mit Nachhilfe bei Schulproblemen für sie eingesetzt", sagt der Heimleiter. Er wisse nicht, ob er in diesem Jahr Azubis wolle.
All diese Themen seien nicht neu. Sie wurden nur über viele Jahre verdrängt. Etwa der überbordende bürokratische Aufwand. "Meine Mitarbeitenden wollen pflegen und nicht 50 bis 60 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentationen verbringen."

Neben einer deutlich besseren Finanzierung ist das, was der Fachmann vor allem will, eigentlich ganz simpel:
Alle Akteure müssen sich zusammensetzen und darüber reden, was eigentlich das gemeinsame Ziel ist. Weil er von der Politik keine durchgreifenden Reformen erwartet, ist der Insider pessimistisch: "Wir müssten jährlich in Deutschland rund 300 neue Heime bauen." Für die fehlt auf lange Sicht schlichtweg das Personal und leisten können sich einen Heimplatz auch immer weniger Menschen. "Ich befürchte, dass die Obdachlosigkeit im Alter irgendwann sichtbar werden wird."
*Name der Redaktion bekannt

Redakteur:

Tom Kreib aus Buxtehude

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