Interview mit IHKLW-Präsident
Bürokratie und Regulierungen rauben Unternehmen Zeit
Andreas Kirschenmann, Geschäftsführer des in Hollenstedt ansässigen Unternehmens Gastroback, wurde jüngst erneut zum Präsidenten der Industrie- und Handelskammer Lüneburg-Wolfsburg (IHKLW) gewählt. Er forderte einen Neustart der Wirtschaftspolitik. Im WOCHENBLATT-Interview erläutert er, wie das gelingen kann, und wo für die Wirtschaft die größten Probleme liegen.
WOCHENBLATT: Wie bewerten Sie den Vorschlag, Unternehmen durch Abschaffung des Solidaritätszuschlags zu entlasten? Wird das allein reichen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken? Oder was schlagen Sie vor?
Andreas Kirschenmann: Die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags wäre ebenso wie eine Senkung des Körperschaftsteuersatzes ein wichtiges Entlastungssignal für die Wirtschaft. Das allein wird aber nicht reichen, um die Investitionskraft der Betriebe zu stärken und den Wirtschaftsstandort Deutschland zukunftsfähig zu machen. In der aktuellen Konjunkturumfrage gibt fast jeder zweite Industriebetrieb in Niedersachsen an, Teile seiner Produktionskapazitäten ins Ausland verlagern zu wollen. Das ist ein schrillendes Alarmsignal. Wir fordern als IHK Lüneburg-Wolfsburg einen echten Neustart der Wirtschaftspolitik. Wichtig wäre, dass sich Bund und Länder schnell auf eine Umsetzung des Wachstumschancengesetzes einigen. Damit würden Unternehmen in einem ersten Schritt schon einmal um immerhin sechs bis sieben Milliarden Euro entlastet. Leider scheint es so, dass das ursprünglich vorgesehene Entlastungsvolumen deutlich geringer ausfallen könnte. Das verunsichert viele Unternehmen, die dringend auf Wachstumsimpulse warten und auf Planungssicherheit angewiesen sind.
WOCHENBLATT: Welches sind die größten Belastungen für die Wirtschaft?
Andreas Kirschenmann: Die Bedingungen für unternehmerisches Engagement in Deutschland haben sich in den zurückliegenden Jahren spürbar verschlechtert. Da sind zum einen die internationalen Herausforderungen. Durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine sind die Energiekosten massiv gestiegen. Immer neue geopolitische Verwerfungen belasten Wertschöpfungs- und Lieferketten. Zum großen Teil sind die Probleme am Wirtschaftsstandort Deutschland aber hausgemacht: Notwendige Strukturreformen und Infrastrukturinvestitionen sind in den zurückliegenden Jahren ausgeblieben. Bei der Abgabenlast aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen trägt Deutschland in Europa die rote Laterne. Bürokratie und Regulierungen rauben den Unternehmen Zeit und schränken unternehmerische Freiräume ein. Die Konsequenzen sind greifbar: Die Unternehmen verlieren an internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Aktuell leidet das Land unter der noch zu hohen Inflation, hohen Zinsen, schwachem Konsum, geringer Investition und der allgemeinen Verunsicherung bei Beschäftigten und Unternehmen. Diesen Entwicklungen müssen wir endlich schnell und entschlossen entgegensteuern. Stattdessen hat die Bundesregierung jetzt aber ein Gesetz vorgeschlagen, mit dem eine Versicherungspflicht für kleine Gabelstapler und Aufsitzmäher eingeführt werden soll. Das Beispiel zeigt, dass das Ziel noch nicht verstanden wurde: Wir brauchen dramatisch weniger und nicht täglich ein bisschen mehr Bürokratie.
WOCHENBLATT: Wie kann Ihrer Meinung nach mehr Geschwindigkeit in alle Planungs- und Genehmigungsverfahren gebracht werden?
Andreas Kirschenmann: Die Verfahren zur Planung und Genehmigung von Vorhaben im Bereich Klimaschutz oder Infrastruktur erstrecken sich heute über mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte. Zum Beispiel dauert die Umsetzung eines Großprojektes auf der Schiene derzeit 20 Jahre. Eine Windenergieanlage braucht von der Vorprüfung bis zum Anschluss am Netz durchschnittlich fünf Jahre. In dieser Geschwindigkeit können die ambitionierten Ziele des Klimaschutzes oder der Digitalisierung kaum erreicht werden. Ob Windkraftanlagen, Gewerbe- und Wohnungsbau, Wasserstoffelektrolyseure, Glasfaserleitungen oder 5G-Mobilfunkmasten: Statt mehrerer Jahre müssten die Verfahren auf wenige Monate reduziert werden.
Einzelne Maßnahmen reichen dafür nicht aus. Es braucht eine grundlegende Überarbeitung des Bau-, Umwelt- und Verwaltungsverfahrensrechts für alle Wirtschaftsbereiche. Darin sollten Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt durchgeführt werden können. Bund und Länder sollten sich auf gemeinsame technische und organisatorische Maßnahmen verständigen. Das gilt insbesondere bei der Ausstattung der Planungs- und Genehmigungsbehörden, der Einführung durchgängig digitaler Verfahren oder der Flächenbereitstellung.
WOCHENBLATT: Viele Unternehmen beklagen einen Fachkräftemangel. Welche Gründe bzw. Fehler der Vergangenheit sind Ihrer Meinung nach verantwortlich für den Fachkräftemangel?
Andreas Kirschenmann: Dem Fach- und Arbeitskräftemangel können wir durch verschiedene Maßnahmen entgegensteuern:
- Durch die Ausbildung des eigenen Nachwuchses in den Betrieben,
- indem wir die Arbeitszeiten - insbesondere von Eltern - durch bessere Kinderbetreuungsangebote ausdehnen,
- durch ausländische Fachkräfte.
Die genannten Punkte brauchen allesamt Unterstützung von der Politik. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Berufsorientierung muss an allen allgemeinbildenden Schulen verbessert werden, damit junge Menschen ihre Berufswahl auf Basis von fundierten Erfahrungen treffen können. Das Betreuungsangebot für Kinder bis zum Ende der Grundschulzeit muss ausgebaut werden. Dafür bedarf es ausreichend Kitas und Horte, verlässliche Ganztagsschulen und ausreichend Personal. Bei der Zuwanderung haben wir mit der Novellierung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes einen guten Schritt nach vorn gemacht. Allerdings müssen wir Willkommenskultur auch leben. Dafür fehlt es nach wie vor an digitaler Beschleunigung und Flexibilität, beispielsweise bei Visaerteilung, Berufsanerkennung und Behördengängen. Wenn Einwanderer hierzulande eine Willkommenskultur erleben sollen, muss das zuallererst auch für den Umgang mit Behörden gelten.
WOCHENBLATT: Herr Kirschenmann, ich bedanke mich für das Interview.
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