WOCHENBLATT-Interview zu Fetaler Alkoholspektrumstörung
Alkohol gilt als Kulturgut und nicht als Zellgift
(bim). Alkohol gehört bei geselligen Zusammenkünften vielfach dazu und gilt als Kulturgut. Problematisch wird es, wenn u.a. schwangere Frauen - auch in geringen Mengen - Alkohol konsumieren. Denn die ungeborenen Kinder nehmen den Alkohol ungefiltert als Zellgift auf und können später an Fetaler Alkoholspektrumsstörung (FASD) leiden - der häufigsten angeborenen Behinderung. Das WOCHENBLATT befragte Julia Fischer von der Pflegeelterninitiative im Landkreis Harburg zu der unterschätzten Gefahr.
WOCHENBLATT: Wie hoch ist die Gefahr, dass Kinder mit der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) geboren werden, wenn Frauen in der Schwangerschaft trinken?
Julia Fischer: Sehr hoch! Alkohol ist ein Zellgift und kann ab dem Moment, in dem der Blutkreislauf des Embryos mit dem der Mutter verbunden ist, Schaden anrichten. Mit Beginn der dritten Schwangerschaftswoche bis zur Geburt ist das der Fall. Da das Gehirn sich über die gesamte Schwangerschaft entwickelt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es bei Alkoholkonsum geschädigt wird. Sobald eine Schwangerschaft besteht und eine Frau das bemerkt, sollte sie radikal auf Alkohol verzichten! Das Umfeld sollte den Verzicht unterstützen. Denn Sätze wie „ein Glas Sekt schadet doch nicht“ bagatellisiert das Problem und verleitet zu unüberlegtem Trinken.
WOCHENBLATT: Wie weit verbreitet ist FASD?
Julia Fischer: Sehr verbreitet. Aktuelle Schätzungen gehen von jährlich 14.000 Neugeborenen mit FASD in Deutschland aus. Die Dunkelziffer ist deutlich höher. Kinder, die in der Jugendhilfe betreut werden, erhalten eher eine Diagnose als Kinder, die in ihren Herkunftsfamilien leben. Experten gehen aber davon aus, dass durchschnittlich in jeder Schulklasse Deutschlands zwei Kinder sitzen, die von FASD betroffen sind.
WOCHENBLATT: Warum ist die Behinderung so wenig bekannt?
Julia Fischer: Alkohol wird immer noch als Kulturgut gefeiert. Er ist eine anerkannte Droge, die Teil unseres gesellschaftlichen Lebens ist und ein positives Image genießt. Das passt mit der Tatsache nicht zusammen, dass Alkohol medizinisch gesehen ein Zellgift ist und unserem Körper schadet. Meines Erachtens müsste in Deutschland viel mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden in Hinblick auf die Gefahr des Alkohols für das Ungeborene im Mutterleib aber auch über die Behinderung FASD. Das Wissen darüber müsste Teil des Ausbildungswissens vieler Berufe im Bereich Medizin, Bildung und Recht sein. Und unsere Jugend muss in der Schule darüber aufgeklärt werden.
WOCHENBLATT: Woran erkennt man FASD?
Julia Fischer: Das Spektrum von FASD reicht von leichten Lernschwierigkeiten bis hin zu starker kognitiver und körperlicher Behinderung. Häufig sind betroffene Kinder hyperaktiv, leicht ablenkbar, neigen zu Wutausbrüchen, sind schnell erschöpft und können sich nicht lange konzentrieren. Noch immer gibt es deutlich zu wenige Fachzentren, die diese Diagnose stellen können. Es werden häufig Störungen wie ADHS, ADS, Entwicklungsverzögerung, LRS, Dyskalkulie, oder psychiatrische Erkrankungen diagnostiziert, ohne dabei die ursächliche Behinderung FASD festzustellen.
WOCHENBLATT: Ist FASD behandelbar oder wie sollte man Kindern und Jugendlichen mit dieser Krankheit begegnen, insbesondere dann, wenn sie straffällig werden?
Julia Fischer: FASD ist nicht heilbar. Der größte Schutz für die betroffenen Kinder ist eine frühe Diagnose und ein entsprechender Umgang damit. Hilfreich sind klare Strukturen und Regeln, die immer wieder eingeübt werden müssen, da Kinder mit FASD Gelerntes leicht wieder vergessen. Deshalb funktioniert gängige Pädagogik mit angekündigten Konsequenzen nur bedingt und trägt dem irreparablen Hirnschaden keinesfalls genügend Rechnung. Die größte Entlastung für die Kinder ist der Wegfall von Druck und Leistungsanspruch.
Sollten Kinder/Jugendliche mit FASD straffällig werden, ist es wichtig, dass die Diagnose in die Gerichtsakte kommt und alle Beteiligten des Verfahrens diesen Fakt akzeptieren und berücksichtigen. Menschen mit FASD lernen nicht oder nur sehr schwer aus Fehlern. Es kann oftmals keine nachhaltige Einsicht der Schuld erwartet werden.
WOCHENBLATT: Welche Zukunftschancen haben solche Kinder, insbesondere diejenigen, die Mein und Dein nicht unterscheiden können und kein Unrechtsbewusstsein haben?
Julia Fischer: Eine stabile Bindung zu ihren Bezugspersonen ist besonders wichtig. Diese Bindung kann man stärken, indem man einen positiv bestärkenden Umgang pflegt und das Selbstbewusstsein der Kinder stärkt. Kleine Erfolge dürfen gefeiert werden! Jeden Tag.
Menschen mit FASD benötigen in vielen Bereichen des Lebens engmaschige Unterstützung, die auch im Erwachsenenalter nicht enden darf.
WOCHENBLATT: Frau Fischer, vielen Dank für die Aufklärung.
Zur Person
Julia Fischer (45) ist Vorstandsmitglied der Pflegeelterninitiative im Landkreis Harburg (Pfeil e.V.) und Mutter von zwei Adoptivkindern mit FASD (8 und 9 Jahre alt). "Der Austausch hilft mir, die Besonderheiten unserer Kinder besser zu verstehen. Darüber hinaus finde ich es wichtig, dass in unserer Gesellschaft sichtbar wird, was Pflege- und Adoptivfamilien jeden Tag leisten", sagt sie.
• Weitere Infos über den Verein unter www.pfeil-harburg.de/
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