Stader erinnert sich an die Pogromnacht
Als die Nazis über die Juden herfielen

Weil die brauen Horden bei ihren Plünderungen unzählige Scheiben zertrümmert haben, wurde die Pogromnacht auch verharmlosend als "Reichskristallnacht" bezeichnet | Foto: Adobe Stock/otodiya83
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  • Weil die brauen Horden bei ihren Plünderungen unzählige Scheiben zertrümmert haben, wurde die Pogromnacht auch verharmlosend als "Reichskristallnacht" bezeichnet
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Dieser Termin gilt als Auftakt der systematischen Jugendverfolgung in Deutschland: Auf den Tag genau vor 84 Jahren, am 9. November 1938, gingen in ganz Deutschland Synagogen in Flammen auf, wurden Geschäfte von jüdischen Inhabern verwüstet und Menschen jüdischen Glaubens misshandelt, verschleppt und getötet. Bei der von den Nazis angezettelten Reichspogromnacht - früher verharmlosend als Reichskristallnacht bezeichnet - starben mehr als 1.300 Menschen. Etwa 30.000 jüdische Bürger kamen in Haft oder wurden ins Konzentrationslager gebracht. Was in der Pogromnacht begann, endete später im Holocaust.

Der Stader Kaptän Harry Banaszak (Jahrgang 1931) hat als Kind miterlebt, wie die Nazi-Schergen jüdische Nachbarn in dieser Nacht drangsalierten, sie misshandelten, ihre Läden und Wohnungen demolierten. Über seine Erinnerungen an die Schreckensnacht hat Banaszak in seinem Buch "Keiner hat mich je gefragt" geschrieben. Das WOCHENBLATT druckt daraus ein paar Zeilen ab:

"Vater hatte den letzten Kunden bedient und das Geschäft geschlossen, die Tür verriegelt. Mutter Liesbeth stellte gerade das Essen auf den Tisch. Plötzlich hörten wir von draußen eindringliches Schreien und Brüllen, so laut, dass es das Brummen der Motoren übertönte. Vater, Mutter Liesbeth und Oma stellten sich an das Kellerfenster. Vater hob mich hoch, damit auch ich etwas sehen konnte.

Ich sah, wie SA-Männer drüben auf der anderen Straßenseite Menschen vor sich her schubsten und sie auf die Ladeflächen der Wagen zerrten. Fensterscheiben wurden zerschlagen, Scherben klirrten auf den Bürgersteig. Möbel und Bettzeug flogen aus den Fenstern der oberen Wohnungen. Federn segelten im trüben Schein der Gaslaternen wie Schneeflocken durch die Gegend. Die großen Schaufenster der Schneiderei und des Seifenladens zerbarsten. Aus der Schneiderei kamen dunkle Gestalten, Stoffballen geschultert, und machten sich davon.

'Mein Gott', sagte Oma, 'mein Gott, das sind doch auch Menschen! Mein Gott, mein Gott,' wiederholte Oma immer wieder. Vater war kreidebleich im Gesicht, und ich zitterte vor Angst.

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Frau Grün aus dem Seifenladen, dessen Schaufensterscheibe gerade zu Bruch gegangen war, kannte ich, solange ich lebte. Frau Grün war immer freundlich. Bei ihr durften wir im Sommer, wenn die Sonne am späten Nachmittag noch schien, sogar auf der Treppe vor ihrem Laden sitzen. Sie verjagte uns nie wie die anderen Geschäftsleute. In den letzten großen Ferien hatte sie jedem von uns sogar einen Kreisel geschenkt, einen schönen bunten.

Unausgeschlafen machte ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zur Schule. Oma und Mutter Liesbeth hatten die ganze Nacht geweint. Überall auf der Straße lagen zerstörtes Mobiliar, zerrissene Kleidung und Scherben. Es sah aus, als hätten die Müllmänner alle Müllkästen auf die Bürgersteige geleert. Mit weißer Farbe waren Fassaden mit sechseckigen Sternen und Parolen gegen Juden beschmiert.

Als Herr Straeng (Anm. d. Red.: gemeint ist der Grundschullehrer des damaligen Erstklässlers) von der erfolgreichen Vergeltung erzählte, die letzte Nacht stattfand, lebte er auf und seine Augen glänzten... Weil wir so brav zugehört hatten, bekamen wir nach der zweiten Stunde frei. Wir durften nach Hause. Dafür sollten wir einen Aufsatz über die Juden schreiben. Für den Aufsatz bekam ich eine Sechs. Ich glaube, der Aufsatz war zu kurz. Oma B., bei der ich noch immer nach der Schule meine Schularbeiten machte und zu Mittag aß, sagte, als ich sie fragte, was ich schreiben solle: 'Schreib, Juden sind auch Menschen. Punkt.' Und das hatte ich geschrieben."

Harry Banaszak: 
Keiner hat mich je gefragt
Ein Kriegskind erzählt. 1931-1948
160 Seiten, viele Fotos
Zeitgut Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-86614-239-8; 9,90 Euro

Weil die brauen Horden bei ihren Plünderungen unzählige Scheiben zertrümmert haben, wurde die Pogromnacht auch verharmlosend als "Reichskristallnacht" bezeichnet | Foto: Adobe Stock/otodiya83
Redakteur:

Jörg Dammann aus Stade

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