Ist der Landkreis Harburg knapp einer Katastrophe entgangen?

Redet Klartext: Tostedts Gemeindebrandmeister Sven Bauer
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(bim). Droht dem Landkreis Harburg beim nächsten Sturm eine Katastrophe, weil in der Winsener Rettungsleitstelle eine nicht ausgereifte Technik verwendet wird? Drastische Worte fand Tostedts Gemeindebrandmeister Sven Bauer in der jüngsten öffentlichen Feuerschutzausschuss-Sitzung der Samtgemeinde. „Das ist kein Fall mehr für das Kreiskommando, sondern für den Staatsanwalt, ein Organisationsverschulden“, erklärte er.
Hintergrund: Als am 5. Oktober der Orkan „Xavier“ über Norddeutschland tobte, habe es in der Rettungsleitstelle ein Problem bei der Annahme der eingehenden Notrufe gegeben. Auf den Leitungen hätten maximal acht Anrufe angenommen werden können. „Dadurch, dass so viele Anrufe gleichzeitig eingingen, fielen manche Anrufe hinten runter“, so Bauer. „Wir haben Glück gehabt, dass es kein Großfeuer gab.“ Auch über Funk seien die Wehren mehrfach nicht erreichbar gewesen. Grund für den Ausfall der Alarmierung sei eine Technikumstellung, die nicht reibungslos funktioniert hat. „Diese verursacht Probleme, die nicht absehbar sind“, so Sven Bauer. Diesbezüglich habe es am 12. Oktober ein Gespräch zwischen Feuerwehrführungen und dem Landkreis gegeben.
Was besonders erschreckt: Die Technik-Umstellung erfolgte bereits am 18. Juli. Seither hat die Kreisverwaltung die Probleme nicht in den Griff bekommen und auch versucht, das heikle Thema unter dem Deckel zu halten. In Zeiten der Terrorgefahr, in denen von den häufig ehrenamtlichen Organisatoren selbst für Dorffeste und andere Veranstaltungen Sicherheitskonzepte verlangt werden die Bevölkerung in Unkenntnis zu lassen, ist unverantwortlich.

„Es ist reines Glück, dass nicht mehr passiert ist“

(bim). „Die Probleme mit der Technik in der Leitstelle und der Alarmierung gibt es nicht erst seit Kurzem, sondern seit der Umstellung im Sommer immer wieder“, wird dem WOCHENBLATT aus Feuerwehrkreisen bestätigt. Diese seien aber beim Orkan „Xavier“ massiv aufgetreten. Bürger konnten Notrufe nicht absetzen, die Leitstelle war nicht erreichbar oder reagierte nicht.
Solche Probleme gebe es, wenn man eine Technik einsetzt und keinen Servicedienstleister vor Ort habe, oder eine Notrufleitung nicht ausreichend für alle Notfälle wie ein Sturmtief dimensioniert sei. „Es ist reines Glück, dass nicht mehr passiert ist“, sagt ein Feuerwehrmann.
Beim Orkan hätten viele Bürger die Feuerwehren direkt in den Gerätehäusern angerufen, da sie keinen Notruf absetzen konnten, und mit Glück dort jemanden erreicht.
Das neue System der digitalen Alarmierung sei nicht ausgereift, bei der Umsetzung hake es.
Beispiele: In den Feuerwehrfahrzeugen gebe es die Möglichkeit, einen Knopf zu drücken, um von der Leitstelle zurückgerufen zu werden - mit Taste Null mit oberster Priorität. Doch selbst das funktionierte während des Sturms nicht zuverlässig. Die Alarmierung der Kameraden sei am Tag des Orkans vielfach von Hand vom Gerätehaus ausgelöst worden und erfolgte untereinander per Telefon oder WhatsApp. „Die Alarmierung durch die Leitstelle kam erst, als wir längst am Einsatzort waren“, berichtet ein Retter.
Probleme gebe es auch generell bei der Meldung von Schadenslagen. Diese würden der Leitstelle vom Stadt- oder Gemeindebrandmeister gemeldet. Beispiel: ein Müllcontainerbrand. Dafür reiche es aus, dass ein Tanklöschfahrzeug ausrücke. Es sei jüngst aber vorgekommen, dass dafür von der Leitstelle ein ganzer Löschzug samt Drehleiter alarmiert worden sei. „Weil nicht das alarmiert wird, was gemeldet wurde“, so ein Feuerwehrmann. Eventuell noch ein Technik-Fehler.
Hinzu komme, dass die Leute in der Leitstelle offenbar nicht ausreichend geschult seien, die Programmierung der Melder nur „kleckerweise“ erfolge. Auch gebe es insgesamt nicht genug Personal in der Leitstelle, in der es zudem ein Kompetenzgerangel zwischen „Praktikern“ und „Bürokraten“ gebe, so ein Insider.
Damit die Feuerwehr in Notfällen erreichbar ist, gibt es seit 2007 eine landkreisübergreifende Leitstellenkooperation des Landkreises Harburg mit dem Heidekreis und dem Kreis Rotenburg. Wenn in Winsen alle Leitungen belegt sind, sollen die Notrufe an die anderen Leitstellen weitergeleitet werden. „Die Idee, dass sich die Landkreise gegenseitig unterstützen, ist gut. Aber an der Ausführung hapert es“, so ein Feuerwehrmann.
Die neue Leitrechner- und Vermittlungstechnik - für die die drei Landkreise rund 2,34 Millionen Euro aufgewendet haben - hat die bisherige Technik nach zehn Jahren abgelöst. Kooperation und Technik sollten neben einer wesentlich erhöhten Ausfallsicherheit bei technischen Störungen den rund 550.000 Bürgern der drei Landkreise mehr Sicherheit bei Notfällen geben. Über die 112 sollten eingehende Notrufe auch bei sehr hohem gleichzeitigem Notrufaufkommen angenommen und die Einsätze disponiert werden können, da die Notrufe im Verbund in allen drei Leitstellen gleichzeitig auflaufen und abgearbeitet werden sollen. „Auch größere Schadensereignisse können im Verbund durch Schwerpunktbildung und Arbeitsteilung wesentlich reibungsloser als in drei Einzelleitstellen abgearbeitet werden.“ So zumindest stand es auf dem Papier.
Doch vom Orkan „Xavier“ waren alle drei Landkreise gleichermaßen betroffen.

Landrat Rempe: "Schwachstellen werden wir schnellstmöglich beheben"

(bim). Laut dem Landkreis wurde zur Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den drei Leitstellen Anfang 2017 eine Zweckvereinbarung geschlossen. Damit sei es erforderlich gewesen, die gesamte Technologie mit den wesentlichen Komponenten IT-Vernetzung, Digitalfunkanbindung, Telefonie sowie die Hard- und Software des Einsatzleitrechners vollständig zu erneuern. Wegen der Technik-Misere stellte das WOCHENBLATT dem Landkreis mehrere Fragen, deren Antworten wir hier in Auszügen wiedergeben:
WOCHENBLATT: Wie ist der technische Ablauf bei eingehenden Notrufen in der Rettungsleitstelle geregelt? Bei der Vielzahl gleichzeitiger Anrufe beim Orkan „Xavier“ seien manche Notrufe nicht durchgekommen, stimmt das?
Landrat Rainer Rempe: Für die Annahme der Notrufe stehen in allen drei Verbundleitstellen unserer vernetzten Landkreise Harburg, Rotenburg und Heidekreis je acht Leitungen zur Verfügung. Die Anzahl der Leitungen beruht auf unseren Erfahrungen der letzten Jahre sowie den Empfehlungen und Erfahrungswerten des Fachplaners. Demnach soll die Anzahl von je acht Leitungen für die Region ausdrücklich auch für Sonderlagen ausreichend sein.
Bei dem Sturm am 5. Oktober war unsere Leitstelle in der Anfangsphase jedoch über Funk und Notruf 112 für viele Anrufer nur schlecht erreichbar. In der ersten Phase der Unwetterlage (ca. 60 Minuten) wurden über 1.000 Anrufe in der Einsatzleitstelle registriert, darunter auch eine ganze Reihe von Mehrfachanrufen zum gleichen Notfall. Insgesamt wurden in dem Zeitraum 370 Einsätze durch unsere Rettungsleitstelle ausgelöst und alarmiert.
Auch wenn die Anzahl der Leitungen in der Vergangenheit ausreichend war, werden wir vor dem Hintergrund dieser jüngsten Erfahrungen die Empfehlungen des Fachplaners hinsichtlich der technischen und personellen Kapazitäten sehr kritisch überprüfen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen ziehen.
WOCHENBLATT: Was wäre passiert, wenn ausgerechnet die Anzeige eines Großbrandes verzögert aufgelaufen wäre?
Rempe: Natürlich kann jede Verzögerung zu einer weiteren Eskalation der Gefahrenlage am Einsatzort führen, da Feuerwehr und Rettungskräfte nur entsprechend zeitverzögert alarmiert werden können. Eingehende Notrufe werden im Rahmen der vorgehaltenen Kapazitäten von der Rettungsleitstelle auch bei hohem Aufkommen angenommen und je nach Einsatzart (Rettung / Brand) gezielt priorisiert und bearbeitet.
WOCHENBLATT: Wie erfolgt die Alarmierung der Rettungskräfte?
Rempe: Die Alarmierung der Rettungskräfte durch die Rettungsleitstelle erfolgt durch digital ausgelösten Sirenenalarm sowie über die Digitalen Meldeempfänger (DME). Während der Unwetterlage am 5. Oktober kam es zu einem kurzzeitigen Ausfall des Digitalalarmgebers auf der Strecke zwischen Zeven und Soltau, wodurch der Alarmierungskreislauf kurzzeitig unterbrochen wurde. Um zukünftig auf kurzfristige Ausfälle dieser Art schnell reagieren zu können, wurde jetzt ein mobiler, netzunabhängiger Alarmgeber als zusätzliche Rückfallebene jeweils durch alle Verbundpartner beauftragt.
WOCHENBLATT: Während des Orkans sei die Richtfunkstrecke ausgefallen und Wehren über Funk nicht erreichbar gewesen. Was war passiert?
Rempe: Die vom Land Niedersachsen vorgehaltene Autorisierte Stelle Digitalfunk Niedersachsen (ASDN) hat uns eine Anbindung über eine Richtfunkstrecke von Winsen nach Lüneburg empfohlen und realisiert. Diese Anbindung war jedoch am 5. Oktober wiederholt durch Sturmeinwirkungen unterbrochen.
Der Mangel wurde der ASDN in einem Termin am 19. Oktober vorgetragen, und wir haben sofortige Abhilfe eingefordert. Die ASDN gesteht Mängel ein und hat zugesichert, über die Telekom (Leistungsbereitsteller) eine erdgebundene Anbindung vom Kreishaus Winsen nach Lüneburg umzusetzen.
Bis zur Realisierung werden wir die Richtfunkstrecke weiter nutzen. Bei künftigen Sonderlagen werden wir sofort auf die vor der Umstellung eingesetzte „Luftschnittstelle“ zurückgreifen, um die Erreichbarkeit der Wehren jederzeit sicherzustellen.
WOCHENBLATT: Gibt es genügend Personal in der Leitstelle?
Rempe: In der Leitstelle haben wir wie bereits vor der Umstellung eine Sollstärke von zwei Disponenten pro Zwölf-Stundenschicht, die in Sonderlagen um weitere Disponenten verstärkt wird. Insgesamt stehen 13 Disponenten für den Schichtdienst in Doppelbesetzung zur Verfügung. Auch in diesem Bereich gibt es Fluktuation, dies ändert jedoch nichts an der Doppelbesetzung der Leitstelle im 24-Stunden-Betrieb.
WOCHENBLATT: Müssen die Landkreisbewohner bei einem erneuten Sturm dieses Ausmaßes befürchten, dass die Rettungskräfte nicht rechtzeitig alarmiert werden?
Rempe: Nein, alle identifizierten Schwachstellen werden wir schnellstmöglich beheben, um die Erreichbarkeit der Rettungsleitstelle sicherstellen zu können. Falls Anrufer den Notruf 112 der Leitstelle in solchen Sonderlagen nicht erreichen (Besetzt-Signal), sollten sie ihre Anrufversuche möglichst fortsetzen oder alternativ auf den Polizeinotruf 110 ausweichen.
WOCHENBLATT: Was hat die neue Technik den Landkreis gekostet?
Rempe: Der Landkreis Harburg hat sich die Gesamtkosten für die Umstellung der Leitstellentechnologie in Höhe von 2,34 Millionen Euro mit den beiden Partnern des Leitstellenverbundes, dem Heidekreis und dem Landkreis Rotenburg, zu je einem Drittel geteilt. Der Kostenanteil des Landkreises Harburg lag demnach bei rund 800.000 Euro.

Redakteur:

Bianca Marquardt aus Tostedt

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