Interview mit Dr. Ute-Christine Haberer: Was macht Soziale Distanz mit uns?
"Der Mensch ist ein Beziehungswesen"

"Für den Menschen ist es wichtig, soziale Kontakte zu haben. Die Einschränkung der sozialen 
Kontakte ist ein Angriff auf das Seelenleben", sagt Dr. Ute-Christine Haberer | Foto: sasha_freemind
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    Kontakte ist ein Angriff auf das Seelenleben", sagt Dr. Ute-Christine Haberer
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as. Tötensen. Die Straßen sind menschenleer, statt Begegnungen im Büro gibt es nun Homeoffice und die Freunde trifft man nur noch online. Wo vorher räumliche Nähe war, bleibt uns derzeit nur der Kontakt über Telefon, Social Media und Co. Was die neue Distanz zu unseren Mitmenschen mit uns macht, das erklärt Dr. Ute-Christine Haberer, Chefärztin der Abteilung für Psychosomatische Medizin am Krankenhaus Ginsterhof in Rosengarten-Tötensen.

WOCHENBLATT:
Frau Dr. Haberer, braucht der Mensch überhaupt soziale Kontakte?
Dr. Ute-Christine Haberer: Für den Menschen sind soziale Kontakte sehr wichtig. Der Mensch ist evolutionär bedingt ein Gruppenwesen, nur im Zusammenschluss konnten unsere Vorfahren überleben. Und der Mensch ist ein Beziehungswesen: Die Identität des Menschen bildet sich erst mit einem Gegenüber. Der Mensch braucht für eine gelingende psychische und physische Identitätsentwicklung die vertrauensvolle, nahe Beziehung zu anderen Menschen. Das ist entwicklungspsychologisch im Menschen verankert.

WOCHENBLATT: Wieso fällt es manchen Menschen schwer, sich an die Einschränkung des sozialen Lebens zu halten?
Dr. Ute-Christine Haberer: Eine Ursache dafür ist ein Drang zur Verleugnung. Das Virus ist unsichtbar, nicht greifbar. Das verführt die Menschen dazu, die Gefahr zu verleugnen. Das ändert sich, wenn die Folgen des Coronavirus näher an den Menschen rücken, z.B. Verwandte in Quarantäne sind, der Urlaub abgebrochen werden muss oder man selbst unter Verdacht steht, sich mit Corona infiziert zu haben. Dann setzt die Angst ein, die in diesem Fall das Leugnen beendet, und wir ziehen die Konsequenzen.
Ein weiterer Aspekt, weswegen es manchen schwer fällt, ist, dass die Aktivität, z.B. bei gemeinsamen Treffen, dazu beiträgt, dass man sich angesichts der Bedrohung durch ein unsichtbares Virus nicht hilflos ausgeliefert fühlt. Weiterzumachen wie bisher kann auch ein Versuch sein, diesem Ohnmachtsgefühl zu entkommen, wenn auch ein fehlgeleiteter.

WOCHENBLATT: Was bedeutet die Einschränkung der sozialen Kontakte für die Psyche?
Dr. Ute-Christine Haberer: Die Einschränkung der sozialen Kontakte ist ein Angriff auf das Seelenleben, das psychische Erleben des Menschen. Plötzlich darf ich vieles, was selbstverständlich war, nicht mehr. Das frustiert und ärgert, man muss verzichten und es ist anstrengend, sich an diese Einschränkungen zu halten. Hinzu kommt auch die Angst, zu vereinsamen.

WOCHENBLATT: Gehen Erwachsene und Kinder unterschiedlich mit diesen Einschränkungen um?
Dr. Ute-Christine Haberer: Kinder können das, was jetzt passiert, schwerer verstehen. Erwachsene können auf die Vernunft zurückgreifen, können sich die Situation klar machen und auch besser kompensieren. Wichtig ist jetzt, angemessen auf die Fragen der Kinder zu ragieren, damit sie keine Angst kriegen. Das ist jetzt auch eine Herausforderung für die Eltern, ihren Kindern die Situation dem Alter angemessen, klar und entängstigend zu erklären, damit sie möglichst gut damit umgehen können.

WOCHENBLATT: Macht soziale Distanz einsam?
Dr. Ute-Christine Haberer: Soziale Distanz macht einsam. Aber zunächst einmal müssen wir unterscheiden zwischen "körperlicher Distanz" und "sozialer Distanz". Die körperliche Distanz ist nun einmal durch die Einschränkung des gesellschaftlichen Lebens vorhanden - man hält Abstand zu seinen Mitmenschen, hat keinen physischen Kontakt - aber man kann verhindern, dass die körperliche Distanz zur sozialen Distanz wird und man sich einsam fühlt. Vor allem durch die heutigen Möglichkeiten der Kommunikation ist der Kontakt und der gegenseitige Austausch erleichtert. Indem man seine Familie, Verwandte, Freunde oder Bekannte jetzt regelmäßig anruft, kann man verhindern, dass soziale Distanz und Einsamkeit entstehen. Auch Angebote wie Online-Gottesdienste, Nachbarschaftshilfen oder die telefonischen Kontaktmöglichkeiten zu Beratungsstellen helfen dabei. Geichwohl ist körperliche Berührung für Menschen auf Dauer nicht zu ersetzen

WOCHENBLATT:
Gibt es Gruppen, die besonders gefährdet sind?
Dr. Ute-Christine Haberer: Alleinstehende oder Menschen mit einer psychischen Erkrankung, z.B. Depressionen oder Ängsten, haben es jetzt besonders schwer. Denn für sie wichtige Strukturen und Angebote wie z.B. Selbsthilfegruppen fallen jetzt weg. Diese Menschen müssen jetzt besonders darauf achten, dass es ihnen gelingt, eine geregelten Tagesablauf zu erhalten, sich zu pflegen, einkaufen zu gehen oder zu telefonieren. Entscheidend ist, dass sie sich nicht so weit zurückziehen, dass sie Hilfsangebote nicht mehr annehmen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Kliniken wie der Ginsterhof weiterhin solche Patienten aufnehmen und behandeln kann.

WOCHENBLATT: Wie kann man mit dem Alleinsein umgehen?
Dr. Ute-Christine Haberer: Wichtig ist jetzt, die Tagesstruktur zu erhalten und vor allem, den Kontakt nach außen aufrechtzuerhalten. Man kann jetzt die eigene Kreativität und Schöpfungskraft wiederentdecken. Es ist wichtig, aktiv zu sein, es müssen aber nicht die großen Dinge sein. Man kann zum Beispiel Tagebuch schreiben, nähen, stricken, musizieren oder sich etwas Schönes kochen. Man kann Podcasts hören oder lange geschobene Projekte angehen, z.B. den Dachboden aufräumen oder endlich den dicken Roman lesen.

WOCHENBLATT: Kann man den Einschränkungen des sozialen Lebens auch positive Aspekte abgewinnen?
Dr. Ute-Christine Haberer: Unsere Werte, unser Verhältnis zur Umgebung und zu unseren Mitmenschen ändern sich gerade. Es wäre schön, wenn wir die menschlichen Werte wie Solidariät, Gemeinschaftsinn und Nächstenliebe, die wir jetzt erleben, auch erhalten können. Wenn diese gesellschaftlichen Werte wieder wichtiger werden als Selbstbezogenheit oder der Blick auf größtmögliche Effizienz. Weiterhin hoffe ich, dass wir die digitalen Errungenschaften weiter ausbauen und auch zukünftig in diesem Sinne gut nutzen können.
WOCHENBLATT: Vielen Dank für das Gespräch.

Redakteur:

Anke Settekorn aus Jesteburg

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