Politiker in Stade streiten darüber, wie sie geschützt vor Infektionen tagen können
Wie funktioniert Demokratie in Zeiten von Corona? Ein Lehrstück aus dem Stader Rat
jd. Stade. Wie funktioniert Demokratie in Zeiten von Corona? Nicht nur im Bundestag stellt sich diese Frage. Auch auf kommunaler Ebene wird das rechtsstaatliche Prinzip der repräsentativen Demokratie auf eine Belastungsprobe gestellt. Sollen Ratssitzungen trotz Corona weiter stattfinden? In Stade ist darüber eine heftige politische Debatte entbrannt.
Für die Woche vor Ostern hatte Bürgermeister Sönke Hartlef (CDU) zu einer Sondersitzung eingeladen - aus wichtigem Grund: Die Stadt Stade hatte noch nicht ihre Einwilligung zu einer Bürgschaft über fünf Millionen Euro für die Elbe Klinken erteilt. Die Zustimmung zur Erhöhung des Kreditrahmens war erforderlich, um die Liquidität des Krankenhauses zu sichern. Das Okay des Landkreises, der neben der Stadt Stade weiterer Gesellschafter der Elbe Kliniken ist, gab es bereits vor zwei Wochen (das WOCHENBLATT berichtete).
Es war Eile geboten. Erforderlich war aber auf jeden Fall ein Beschluss der politischen Gremien. Zunächst hatte Bürgermeister Hartlef vor, den Beschluss vom nicht-öffentlich tagenden Verwaltungsausschuss (VA) fassen zu lassen - im sogenannten Umlaufverfahren, das keine persönliche Anwesenheit erfordert.
Dieser Vorgehensweise hätten aber alle VA-Mitglieder zustimmen müssen. Da sich einige dagegen sträubten, sah Hartlef als Ausweg nur die Einberufung einer Ratssitzung. Und wenn der Rat ohnehin wegen der Klinik-Bürgschaft tagen muss, dann hätte man auch andere Themen abarbeiten können, so seine Überlegung.
Mit einer Ratssitzung wiederum konnten sich viele Politiker nicht anfreunden. Es hagelte Absagen und von der "bunten Gruppe" gab es sogar ein bitterböses Statement: Man sei entsetzt, in Zeiten der Kontaktsperre die Ratsmitglieder zu einer "Coronaparty" im Rathaus zu versammeln, so Fraktionschef Wolfgang Ehlers (FDP). "Die Gruppe wird an dieser Ratssitzung unter den jetzigen besonderen Umständen nicht teilnehmen", so Ehlers. Er sprach sich dafür aus, wegen des einzig wichtigen der mehr als 20 Tagesordnungspunkte, nämlich besagter Bürgschaft, eine VA-Sitzung abzuhalten.
Das geschah dann auch. Hartlef rief den neunköpfigen Verwaltungsausschuss ein, da der Rat wegen der vielen Absagen ohnehin nicht beschlussfähig gewesen wäre. Die Bürgschaft wurde genehmigt, zugleich wurden laut Hartlef einige "Bauthemen" abgearbeitet, damit die Verwaltung Aufträge erteilen kann.
Damit ist zwar das Thema Bürgschaft abgehakt, doch die Diskussion, wie angesichts von Corona in Stade Politik gemacht werden kann, hat sich wohl noch nicht erledigt. Denn der VA-Beschluss erfolgte auf Basis einer "Eilentscheidung". Das ist laut niedersächsischer Kommunalverfassung in Ausnahmefällen erlaubt, darf aber keinesfalls zum Dauerzustand werden.
Will ein Rat in Krisenzeiten für einen befristeten Zeitraum Kompetenzen auf den Verwaltungsausschuss übertragen, bedarf es dazu eines entsprechenden Ratsbeschlusses. Darauf wies die Stader CDU-Fraktionsvorsitzende Kristina Kilian-Klinge in ihrer Replik auf Ehlers' Verlautbarung hin. Nach ihrer Ansicht wäre es möglich gewesen, unter Wahrung der Mindestabstände eine Ratssitzung abzuhalten, "notfalls hätte in eine Turnhalle ausgewichen werden können". Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen tagtäglich ihre Pflicht erfüllen, könne sich ein Rat als Teil der Exekutive "nicht in einer so schweren Phase wie dieser wegducken".
Für Kilian-Klinges Fraktionskollegen Daniel Friedl kam die von Ehlers angekündigte Nicht-Teilnahme der "bunten Fraktion" an der letztlich abgesagten Ratssitzung sogar einem "Boykott" gleich. Die Ratspolitiker seien "moralisch dazu verpflichtet" zu tagen: Ein Rat könne sich doch nicht einfach weigern, eine Stadt weiter zu regieren.
Diese Auffassung vertreten auch die Grünen: "Die Arbeitsfähigkeit der politischen Gremien muss erhalten bleiben", sagt Dr. Barbara Zurek, Fraktionschefin der Grünen. Auch sie plädiert dafür, Kompetenzen zeitweise vom Rat auf den VA zu übertragen. Das Beschneiden der repräsentativen Demokratie sei in dieser Ausnahmesituation kurzfristig vertretbar. So viele andere Menschen stünden trotz Corona an ihrem Platz und hielten das System am Laufen, meint Zurek. "Da können wir Politiker nicht einfach die Probleme zu Hause aussitzen." Ähnlich sieht es WG-Fraktionsvorsitzender Carsten Brokelmann: "Die demokratischen Organe müssen auch in dieser Situation handlungsfähig bleiben." Und SPD-Frontmann Kai Holm schlägt vor, dass der Rat in einer Corona-Notbesetzung zusammentritt, um so die Sicherheitsabstände zu wahren. Bei einem um die Hälfte verkleinerten Rat hätten die Fraktionen dann anteilmäßig weniger Sitze.
Dieses Pairing-Verfahren wäre eine Lösung, mit der sich auch Bürgermeister Hartlef anfreunden könnte. Ehlers' Schreiben empfinde er als Frechheit. "Zudem ist es ein falsches Signal an alle, die da draußen selbstverständlich ihre Pflicht erfüllen."
Der von Hartlef so Gescholtene legte indes noch eins nach. So fragt sich Ehlers: "Soll ich heute mit fast 65 Jahren, also als Angehöriger der Risikogruppe, aus Staatsräson zu einer Sitzung ins Rathaus kommen, obwohl es auch bessere Wege gibt?" Gemeint sind damit Sitzungen per Videokonferenz. "Warum geht das überall, nur bei uns nicht?", will Ehlers wissen. Dass solch eine Möglichkeit in Stade noch nicht bestehe, führe jedem "das Versagen der Verwaltungsspitze vor Augen".
Die Absagen eines Großteils der Ratsmitglieder für die anberaumte Ratssitzung reklamiert der FDP-Politiker als Zustimmung für seine Sicht der Dinge. "Die ,schweigende Mehrheit' teilt meine Ansicht und hält sich fern." Er vermisse nach vier Wochen Ausnahmezustand Vorschläge des Bürgermeisters und der Verwaltung, wie man die Exekutive arbeitsfähig halten kann, so Ehlers: "Mit fehlt der offene Dialog und ein Teamgeist, den ich an anderen Orten gerade in Notzeiten gewohnt bin."
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