Niedersachsen
Lehrermangel als Chance für Systemreformen nutzen
Rund zehn Jahre lang wurde öffentlich bestritten, was viele Eltern und Kinder selbst täglich erlebt haben: Weil Lehrkräfte fehlen, fällt Unterricht aus. In Niedersachsens Schulen fehlten laut der Bildungsgewerkschaft GEW zum Schuljahresbeginn rund 10.000 Beschäftigte, davon 7.000 Lehrer. Und dieses Problem wird laut Experten noch einige Jahre andauern. Die Strategie aktuell: Mit Lehrpersonal gut ausgestattete Schulen geben Lehrkräfte an andere Schulen ab.
Manche Fächer sollen
zusammengefasst werden
Die amtierende Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) hat das Problem öffentlich benannt und einen Vorschlag gemacht, um den Lehrermangel zu kompensieren: Demnach will das niedersächsische Kultusministerium es Haupt-, Real- sowie Oberschulen in Zukunft ermöglichen, manche Fächer zusammenzufassen. Eine entsprechende Änderung ist bis zum 1. August 2025 geplant.
Aus den Fächern Biologie, Physik und Chemie könnte das Fach Naturwissenschaften werden, aus den Fächern Geschichte, Erdkunde und Politik das Fach Gesellschaftslehre.
Die GEW begrüßt den Vorschlag, der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte sieht die Ankündigung mit Sorge, ein "'pädagogischer Zehnkämpfer', der alles kann und alles weiß, kann nicht erwartet werden", meint der Verband.
Alle haben Interesse an einer
Unterrichtsversorgung in allen Fächern
"Die GEW hat wie Eltern und die Schulleitungen aller Schulformen Interesse daran, eine Unterrichtsversorgung in allen Fächern abzudecken. Wir wissen um die Personalengpässe", sagt Tostedts Gymnasiumsleiter Stefan Birkner. Der Vorschlag des Kultusministeriums sei aber allenfalls ein vorübergehendes Notprogramm, in dem Lehrer Sachinhalte unterrichten, bei denen sie in Methodik und Didaktik nicht vertraut und nicht ausgebildet seien. "Ein fachfremder Kollege kann sich einarbeiten, das hat aber seine Grenzen: Auf welche Inhalte kommt es in welchem Jahrgang an? Wie versteht welcher Jahrgang den Inhalt?" Sonst laufe die Lehrkraft Gefahr, dass die abgefragten Kompetenzen eine qualitative Minderung erfahren.
"Schule braucht Kontinuität, Verlässlichkeit und Professionalität, keine Notsituationen", betont Stefan Birkner. Das Gymnasium sei aufgrund der hohen Besoldung (A13) bei Lehrkräften gut aufgestellt. "Wir haben ein Interesse daran, dass es eine gute Versorgung an allen Schulen gibt, um unsere Kinder lebensfähig zu machen. Wir brauchen ein Konzept seitens der Politik", sagt Birkner. Mit der vorübergehenden Abordnung von Lehrkräften an andere Schulen werde diesem Solidargedanken Rechnung getragen, aber: "Für aufnehmende und abgebende Schulen muss klar sein, dass es ein Ende hat."
Die Politik sei gefordert, Eltern, Lehrern, Schulen und Schulleitungen eine Perspektive zu schaffen, zum Beispiel durch mehr Studienplätze und Werbung für das Studium auf Lehramt. Auch müssten die Fächer selbst in den Schulen besser aufgestellt sein. "Das ist ein großes Dilemma. Guter, verlässlicher Unterricht ist auch Voraussetzung dafür, dass Kinder zum Studieren bestimmter Fächer motiviert und befähigt werden."
Neue Ideen für das
Schulsystem entwickeln
Eine Perspektive seitens der Politik wünscht sich auch Jutta Mangelmann, Leiterin der Hauptschule Süd in Buxtehude. Sie sieht in dem Vorschlag eine Chance, neue Ideen für das Schulsystem zu entwickeln. "Ich finde die Idee grundsätzlich gut und zeitgemäß, ganzheitlich zu denken und fächerübergreifend zu unterrichten", sagt sie. Für die Umsetzung sei es allerdings notwendig, den Lehrkräften gerade in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) entsprechende Fortbildungen anzubieten, um die nötigen Kompetenzen zu erwerben. Und der Lehrerberuf müsse attraktiver werden, damit Chemie- und Physik-Studierende nicht eine Stellung in der Forschung und freien Wirtschaft bevorzugten.
Wenn ein Land einen solch mutigen Vorstoß plane, sei es außerdem unabdingbar, die Lehrpläne zu entschlacken und die Fächer nicht mit inhaltlichen Themen zu überfrachten, die in einem bestimmten Zeitraum gelehrt werden müssen.
Ein Maurer kann
auch kein Dach decken
"Wir haben das bereits ein halbes Jahr lang ausprobiert. Bei Geschichte, Politik und Erdkunde mag das leichter sein, weil es gesellschaftliche Themen sind, aber inhaltlich ist es ein weites Feld. Und ein Biologielehrer hat nicht unbedingt physikalische Kompetenzen. Ein Maurer kann ja auch kein Dach decken", nennt Jutta Mangelmann einen treffenden Vergleich.
"Ich hoffe, dass es nicht nur blinder Aktionismus ist und am grünen Tisch etwas überlegt wird, das in der Umsetzung scheitert", so Jutta Mangelmann. Bei der politischen Beratung sei es wichtig, Vertreter möglichst aller Schulformen mit ins Boot zu holen. Es gehe nicht nur darum, den Lehrermangel zu übertünchen. Vielmehr müsse Schule insgesamt dann anders aufgestellt und in der pädagogisch sinnvollen Umsetzung unterstützt werden.
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.