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Haus- und Fachärztemangel
Patienten verzweifeln am Gesundheitssystem

Foto: contrawerkstatt

Viele Menschen kennen das: Bei der Suche nach einem (neuen) Hausarzt in der Nähe hört man sehr häufig: "Wir haben einen Aufnahmestopp". Und auf einen Termin beim Facharzt muss man - zumindest als gesetzlich Versicherter - meistens ein halbes Jahr lang warten oder weite Fahrtwege auf sich nehmen. Der Mangel an Haus- und Fachärzten auf dem Land ist nicht nur in den Landkreisen Harburg und Stade ein massives Problem. Verzweifelte Menschen mit akuten Gesundheitsbeschwerden oder Schmerzen ohne Befund suchen dann nicht selten die ohnehin schon überlasteten Notaufnahmen auf.

Allein in den Notaufnahmen der Elbe-Kliniken Stade-Buxtehude sind die Patientenzahlen in den vergangenen Jahren um etwa 17 Prozent gestiegen. Und nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) fehlen im Land schon jetzt mehr als 500 Hausärzte.

"Bedarfsplanung" stammt von CSU-Minister aus den 1990er Jahren
Eine Ursache für den Haus- und Fachärztemangel auf dem Lande ist die sogenannte "Bedarfsplanung". Diese wurde in den 1990er Jahren unter dem damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) eingeführt. Den Erfordernissen der Bevölkerung angepasst, sollte eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Ärzte und Psychotherapeuten sichergestellt werden. Durch die Bedarfsplanung wird festgelegt, wie viele Ärzte in einem bestimmten räumlichen Bereich tätig sein dürfen. Der Versorgungsgrad je Arztgruppe wird in einem Planungsbereich anhand einer Verhältniszahl (Ärzte pro Einwohner) berechnet.
In welcher Relation das geschieht, wird vom Bundesausschuss der Ärzte und der Krankenkassen festgelegt. Allerdings geschieht das aus Sicht vieler Patientinnen und Patienten an ihrem persönlichen Bedarf und auch an der auf dem Lande wachsenden Bevölkerung vorbei. Denn bereits vor rund sieben Jahren kamen 1.600 Patienten auf einen Arzt.

Aus Verzweifung in die Notaufnahme
Verzweifelt beim Buchen eines Facharzttermins ist zum Beispiel Uwe Dees aus Seevetal: "Mein Hausarzt hat mir empfohlen, einen Pneumologen aufzusuchen. Wir haben zwei in einem Umkreis von 25 Kilometern. Der erste macht keine Termine, nur über die Nummer 116117. Dort hab' ich angerufen, die benötigen eine zehnstellige Nummer des Hausarztes. Habe ich besorgt, aber es gab über die 116117 keine Termine innerhalb von sechs Monaten.
Der zweite Arzt vergibt Termine nur über den Hausarzt. Mein Hausarzt benötigt dafür die Geschäftsnummer des Pneumologen. Habe ich besorgt und dem Hausarzt mitgeteilt. Das alles hat sich im Juni abgespielt und ich habe bis heute, August 2024, noch keinen Termin! Nun warte ich, bis ich akute Probleme habe, und gehe über 112 in die Notaufnahme."

In der Samtgemeinde Tostedt (Landkreis Harburg) hat kürzlich eine Hausarztpraxis geschlossen, deren Patientinnen und Patienten verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Praxis sind. Einige wandten sich hilfesuchend an das Beratungsbüro für Pflege und Soziales des Herbergsvereins, Altenheim und Diakoniestation zu Tostedt - teils bis zu fünf Patienten an zwei Tagen.
Ihre Sorgen:

  • Wo soll ich jetzt hin? 
  • Wo finde ich einen neuen Arzt? 
  • Ich kann doch nicht viele Kilometer in den nächsten Ort fahren oder immer ein Taxi bestellen.

Derzeit nimmt nach Informationen des Beratungsbüros nur eine Praxis in der Samtgemeinde neue Patienten auf, jedenfalls so weit es sich um gesetzlich Versicherte handelt. "Mit der Nachbarschaftshilfe unterstützen wir Seniorinnen und Senioren auch mit Arztbegleitungen. Aber natürlich sind auch unsere Kapazitäten beschränkt", erläutert Ute Kahle vom Beratungsbüro.

Notaufnahme

Zu den steigenden Patientenzahlen in den Notaufnahmen und den möglichen Ursachen erklärt Privat-Dozent Dr. med. Sebastian Philipp, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin – Kardiologie und Intensivmedizin sowie Ärztlicher Direktor des Elbe Klinikums Stade: „Die Patientenzahlen in den Notaufnahmen der Elbe Kliniken Stade-Buxtehude sind in den letzten Jahren um etwa 17 Prozent gestiegen. Wir behandeln hier jährlich rund 80.000 Menschen. Infrastrukturell ist das für die Notaufnahmen immer wieder eine extrem große Herausforderung. Ob die steigenden Patientenzahlen durch den zunehmenden Ärztemangel und die Schließung von Arztpraxen in ländlichen Regionen wie in unserer zustande kommen, lässt sich von unserer Seite kaum beurteilen. Was wir jedoch merken ist, dass vermehrt Patienten die Notaufnahmen aufsuchen, die lange auf einen Facharzttermin warten mussten oder müssen und in der Zwischenzeit zu Notfallpatienten wurden. Dieses Dilemma betrifft die Krankenhäuser, aber noch vielmehr die Patienten direkt. Denn je früher ein Patient medizinisch behandelt wird, desto besser ist in der Regel die Ausganssituation für alle Beteiligten. Da wir in den Notaufnahmen nur Notfälle behandeln dürfen, findet eine Verlagerung von klassischen Hausarztpatienten eher nicht statt.“

Das sagt die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen

Das WOCHENBLATT fragte bei der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) zur aktuellen Anzahl an Ärzten und Gründen für die Unterversorgung.

Im Landkreis Harburg gibt es demnach 177 Kassenarztsitze für Hausärzte, davon 27 unbesetzt. Im Landkreis Stade gibt es 139 Hausarztsitze, davon 30 unbesetzt.

Aktuell ist im Kreis Harburg ein Arzt für 1.627 und im Kreis Stade für 1.616 Patientinnen und Patienten zuständig.

Der Altersdurchschnitt der Ärztinnen und Ärzte in Niedersachsen ist sehr hoch und liegt laut KVN bei 54,6 Jahren. Daher seien in den vergangenen Jahren und würden in den kommenden Jahren überproportional viele Ärztinnen und Ärzte aus Altersgründen ihre Praxis aufgeben. Ärztenachwuchs sei schwer zu finden, gerade in ländlichen Regionen.

Junge Ärzte zieht es nicht unbedingt aufs Land
Die Gründe: "Grundsätzlich werden zu wenig Mediziner an den Hochschulen ausgebildet. Darüber hinaus zieht es junge Ärztinnen und Ärzte nicht unbedingt in ländliche Regionen. Außerdem sind gerade junge Ärztinnen nicht mehr bereit, 50 oder 60 Stunden in der Woche zu arbeiten. Bei der Besetzung von Arztsitzen heißt das Zauberwort Work-Life-Balance", so KVN-Sprecher Detlef Haffke. Darüber hinaus stellen sich diese Fragen:

  • Findet der Partner der Ärztin/des Arztes einen adäquaten Arbeitsplatz?
  • Wie sieht das Angebot von Kindergärten und Schulen aus (Schul- und Betreuungsangebot)?
  • Wie häufig hat die Ärztin/der Arzt Bereitschaftsdienst am Abend oder am Wochenende?
  • Wie ist der ÖPNV ausgebaut?
  • Gibt es ein gutes Angebot an Freizeitaktivitäten (Kino, Theater, Sport)?
  • Kann ich mit anderen Ärzten in der Region gut kooperieren?

"Wir brauchen schon heute zwei Ärztinnen/Ärzte, um einen ausscheidenden Arztsitz zu besetzen", so Haffke.

Bedarfsplanung bildet Versorgungsrealität nur eingeschränkt ab
"Die Versorgungsgrade in der gesetzlich vorgegebenen Bedarfsplanung bilden die Versorgungsrealität aus unserer Sicht nur eingeschränkt ab. Dies liegt auch daran, dass sich die Ausübung der kassenärztlichen Tätigkeit mit einem starken Trend zur Anstellung und Teilzeittätigkeit in den vergangenen 15 Jahren sehr verändert hat. Die Besetzung einer vollen Stelle im Sinne der Bedarfsplanung entspricht heute nicht immer der Versorgungsleistung, die ein Vertragsarzt in eigener Praxis vor 20 Jahren hatte. Schon heute brauchen wir rechnerisch 1,6 'Köpfe', um einen Vertragsarzt zu ersetzen. Gleichzeitig nehmen die Ansprüche der Patientinnen und Patienten nach schnellen Terminen immer mehr zu. Daher brauchen wir unbedingt auch eine bessere Patientensteuerung", erläutert der KVN-Sprecher.

Eines der Ziele der Bedarfsplanung sei bisher nicht erreicht worden: "Die Sperrung von Bereichen in besser versorgten Regionen hat nicht dazu geführt, Ärztinnen und Ärzte in schlechter versorgte Regionen zu lenken. Wer in die Stadt will, geht nicht aufs Land. Das kann man beklagenswert finden, muss es aber trotzdem als Realität zur Kenntnis nehmen."

Anreize für Ärzte, auf dem Land zu praktizieren:

  • Aufhebung des Honorarbudgets
  • Abbau der Bürokratie in den Praxen
  • Eine funktionierende IT-Infrastruktur (ePatientenakte, eRezept, eArbeitsunfähigkeitsbescheinigung)
  • Keine Regresse für Rezepte
  • Gleichstellung der Praxen mit Krankenhäusern in puncto Finanzierung

Die KVN tue bereits eine Menge und fördere u.a. Neuniederlassungen mit bis zu 60.000 Euro oder gewähre zusätzlich zu finanziellen Förderungen in bestimmten Gebieten eine Umsatzgarantie. Die Umsatzgarantie wird in Höhe des Fachgruppendurchschnitts der jeweiligen Arztgruppe des Vorjahresquartals gewährt und wird maximal für die ersten acht Quartale nach Aufnahme der vertragsärztlichen Tätigkeit bewilligt. Außerdem werbe sie für die Niederlassung bei Medizinstudierenden, Ärztinnen und Ärzten in Weiterbildung und in Krankenhäusern.

Es werden zu wenig Mediziner ausgebildet
Grundsätzlich werden zu wenig Mediziner an den Hochschulen ausgebildet. Die KVN drängt schon seit langem darauf, die seit Jahrzehnten immer weiter zusammengekürzten Kapazitäten der medizinischen Fakultäten zur Sicherstellung des medizinischen Nachwuchses aufzustocken. Hier wurde leider zu viel Zeit verschwendet und eine Gelegenheit vertan, dem drohenden und teils bereits realen Ärztemangel zu begegnen und die ambulante Versorgung mittel- und vor allem langfristig zu stärken. Selbst wenn ab sofort alle mehr oder minder konkret angekündigten Maßnahmen - mehr Studienplätze und eine Landarztquote - vollständig umgesetzt würden, wird dies bis 2035 keine nennenswerten positiven Effekte auf die Versorgung haben. Erst nach 2035 wäre langsam mit spürbaren Effekten zu rechnen. Trotzdem würden pro Jahr rund 500 Medizinstudienplätze zusätzlich in Niedersachsen benötigt.

Weitere KVN-Forderungen:

  • Ausbau des Bedarfsverkehrs in ländlichen Regionen und Ausbau der Internetstrukturen.
  • Neue störungsfreie und stabile Formen der digitalen Kommunikation mit der Arztpraxis (dazu sind gute Breitband-Internetverbindungen notwendig).
  • Eine enge Zusammenarbeit mit den Gemeinden und Landkreisen als Rahmenbedingungen für Niederlassungen.

Erfolgreiches Projekt "stadtlandpraxis" 

Mit seiner Initiative "stadtlandpraxis" engagiert sich der Landkreis Harburg seit 2012 gegen den Hausarztmangel in ländlichen Gebietenund bietet verschiedene Fördermöglichkeiten. „Eine gute Gesundheitsversorgung ist sehr wichtig für die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger und ein wichtiger Standortfaktor, wenn es um die Entscheidung für den Wohnort oder den Unternehmensstandort geht“, betont Kreisrätin Ana Cristina Bröcking.

Die Initiative "stadtlandpraxis" als leistungsstarker Verbund aus Kreisverwaltung, Krankenhäusern, Hausärzten und Kassenärztlicher Vereinigung unterstützt junge Allgemeinmediziner, vermittelt beispielsweise Stellen oder Partner für die Niederlassung. Seit 2020 bietet das Programm zudem verschiedene finanzielle Fördermöglichkeiten. Die Niederlassung von Hausärzten wie für die neue Praxis wird unterstützt, Fördermöglichkeiten gibt es aber auch für Studierende der Humanmedizin, die sich schon während des Studiums für eine spätere hausärztliche Tätigkeit im Landkreis entscheiden. Dabei gelten folgende Fördersummen:

  • bei Niederlassung 24.000 Euro
  • bei Einrichtung einer Zweigpraxis 18.000 Euro
  • bei Anstellung einer Ärztin/eines Arztes 12.000 Euro.

Bisher 64 neu niedergelassene oder angestellzte Ärzte
Über die Initiative wurden bisher 365 grundsätzlich Interessierte für eine hausärztliche Tätigkeit im Kreisgebiet gefunden. 64 Ärztinnen und Ärzte haben sich durch "stadtlandpraxis" niedergelassen oder sind als Angestellte tätig, 33 Mediziner arbeiten als Assistenten in Weiterbildung in den Krankenhäusern Buchholz und Winsen oder in Praxen. Seit 2020 wurden 22 Niederlassungen und 18 Anstellungen finanziell gefördert sowie fünf Stipendien für Medizinstudenten vergeben.

Aktuell besteht der dringendste Bedarf an Hausärzten in Buchholz sowie den Samtgemeinden Jesteburg, Hollenstedt und Tostedt. Der Landkreis Harburg ist in engem Austausch mit der KVN.Der Landkreis Harburg bemüht sich intensiv mit seiner Initiative, Interessenten für eine Tätigkeit als Arzt bzw. Ärztin im Landkreis zu gewinnen.

Gesetzentwurf

Für die "Runderneueung des Gesundheitswesens" hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vier Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht. Ein Entwurf sieht die Reform der Notfallversorgung vor. Ziel des Gesetzes ist es, Hilfesuchende im Akut- und Notfall schneller in die passende Behandlung zu vermitteln und Notfalleinrichtungen effizienter zu nutzen. Kernstück sind sogenannte „Akutleitstellen“, in denen Ärztinnen und Ärzte telefonisch oder per Video beraten, sowie Integrierte Notfallzentren (INZ) an Krankenhäusern, in denen Notdienstpraxen und Notaufnahmen eng zusammenarbeiten und künftig auch mit niedergelassenen Praxen kooperieren.

Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen 

Diesen Vorschlag hält die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN) für nicht umsetzbar und schädlich für die ambulante Versorgung.

Der Vorstand der KVN zeigte sich erfreut darüber, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach wisse, woher das zusätzliche ärztliche Personal für seine Reform der Notfallversorgung kommt. In den Medien wird er mit folgendem Satz zitiert: „Wir werden dieses Personal zur Verfügung stellen. Dazu gibt es gute Vorschläge und das werden wir hinbekommen.“
„Die KVN weiß nicht, woher wir dieses zusätzliche ärztliche Personal nehmen sollen. Sollten die Kassenärztlichen Vereinigungen tatsächlich per Gesetz verpflichtet werden, Ärztinnen und Ärzte in der Akutversorgung für Notdienstpraxen an Krankenhäusern, für telemedizinische Beratungen und für einen fahrenden Bereitschaftsdienst 24/7 einzuteilen, dann müssen zwangsweise die Praxen geschlossen werden“, sagte der stellvertretende KVN-Vorstandsvorsitzende, Thorsten Schmidt. „Eine notdienstliche Akutversorgung durch Vertragsärztinnen und Vertragsärzte rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche ist definitiv nicht leistbar. Die Personalausstattung und die Finanzierung der geplanten Strukturen lässt der Minister völlig offen. Wir haben keine weiteren Ärztinnen und Ärzte in der Hinterhand. Es müssen dieselben sein, die jetzt schon in ihren Praxen an der Belastungsgrenze arbeiten“, ergänzte der KVN-Vorstandsvorsitzende, Mark Barjenbruch.

Redakteur:

Bianca Marquardt aus Tostedt

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