Ick dank Dir och schön
Horneburger Geschichte über bedingungslose Liebe
Er war ein Pflegefall, der nicht ins System passte: Rund 15 Jahre lang kümmerte sich Rita Feinkohl aus Horneburg hingebungsvoll um ihren Onkel Rudi, musste aber auch langjährige und kräftezehrende Kämpfe und gerichtliche Auseinandersetzungen mit Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Behörden führen. Zehn Jahre brauchte sie nach seinem Tod, um wieder in ihr eigenes Leben zurückzufinden und ihre Erlebnisse inklusive der zum Teil "schreienden Ungerechtigkeiten" in einem Buch zu verarbeiten. "Ich habe gefühlt Millionen Male angefangen zu schreiben", so die Horneburgerin,. "Aber ich hatte auch große Angst davor, der Rita von damals zu begegnen."
Schmerz und Ohnmacht
Zu groß waren der Schmerz und das Gefühl von Ohnmacht bei ihren jahrelangen erfolglosen Bemühungen, Unterstützung für die Pflege ihres geistig behinderten Onkels zu erhalten. Jetzt aber ist das Buch mit dem Titel "Ick dank dir och schön" fertig und Rita Feinkohl wieder frei. Heute möchte sie mit ihrer Geschichte auch anderen Menschen Mut machen, nicht aufzugeben.
Als Kind vom Baum gefallen
Ihr Onkel war bereits Mitte 60, als die alleinerziehende Mutter und selbstständige Geschäftsfrau ihn im Jahr 2000 auf einer Familienfeier kennenlernte und dadurch auch erst von seiner Existenz erfuhr. Im Alter von acht Jahren war er als das jüngste Kind einer Schaustellerfamilie in Berlin von einem Baum gefallen. Danach litt er unter epileptischen Anfällen. Man riet der Familie, ihn in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen, wo Rudi 55 Jahre lang lebte, bis er auf der besagten Feier seine Nichte kennenlernte.
Der Funke zwischen Onkel und Nichte sprang sofort über und Rita Feinkohl versprach, ihn schon bald besuchen zu kommen. Im Laufe dieser Treffen, insbesondere nach einem unangemeldeten Besuch, zweifelte die Horneburgerin jedoch daran, dass ihr Onkel gut aufgehoben war. Sie beschloss, Rudi zu sich in den Landkreis Stade zu holen. Das führte zur ersten von vielen weiteren Auseinandersetzungen, denn freiwillig wollten ihn sein damaliger behandelnder Arzt und seine gerichtliche Betreuerin nicht gehen lassen.
Rita Feinkohl holte Rudi in den Landkreis Stade
Doch die Unternehmerin setzte sich durch und wurde selbst seine gesetzliche Betreuerin. Damit hatte sie Zugang zu seinen Akten, bei deren Sichtung ihr zum Teil das Blut in den Adern gefror. "Rudi hat seit seiner Kindheit immer wieder nach seiner Familie gefragt und gesagt, dass er nach Hause wolle", sagt Rita Feinkohl. "Doch man log ihn an und behauptete, er habe keine Familie."
Die Geschäftsfrau ist nach dem Lesen der Akten und auch späterer Einschätzungen von Ärzten und Apothekern überzeugt, dass der geistige und auch körperliche Zustand ihres Onkels durch Medikamente mit verursacht wurde. "Rudi war auf dem Stand eines sechs- bis achtjährigen Kindes stehengeblieben", sagt sie. "Später bei uns lernte er jedoch dazu und konnte zum Beispiel bis 100 rechnen. Er hätte ganz anderes gefördert werde müssen."
Rudi hasste die Medikamente übrigens: Davon werde man dumm im Kopf, hatte er immer gesagt und Zeit seines Lebens versucht, die Einnahme zu verweigern. Das allerdings machte seine Betreuung nicht einfacher.
Die Tür vor der Nase zugeschlagen
Weil sie im Landkreis Stade keine passende Einrichtung für ihren Onkel fand, nahm ihn die alleinerziehende Mutter schließlich zu sich nach Hause. Doch nicht nur die Rundumbetreuung zerrte an ihren Kräften. Auch die finanzielle Belastung war eine Riesenbürde, denn Rita Feinkohl musste aufgrund der aufwendigen Pflege beruflich kürzer treten. Da sich keine Behörde und keine Institution für Rudi zuständig fühlte, zahlte Rita Feinkohl sämtliche Leistungen aus eigener Tasche, bis ihre Ersparnisse aufgebraucht waren. Doch weiterhin blieben alle Versuche, Unterstützung zu bekommen, erfolglos. "Ich bin so oft verletzt worden", sagt Rita Feinkohl. "Immer wieder wurde mir bei der Suche nach Hilfe die Tür vor der Nase zugeschlagen."
Doch Rudi war glücklich - endlich hatte er ein Zuhause und mit Rita und ihrer kleinen Tochter Jasmin eine Familie, die er liebte und von der er bedingungslos wiedergeliebt wurde. "Wir hatten eine wunderschöne Zeit miteinander", so Rita Feinkohl. Und auch Jasmin schaut gerne zurück: "Für mich war es völlig normal, mit Rudi zusammen aufzuwachsen, der immer eine Kapitänsmütze und Hosenträger trug. Er war ein Charmeur."
Das änderte jedoch nichts daran, dass die Unternehmerin irgendwann nicht mehr weiter wusste. Da sie für die Betreuung zuhause keine finanzielle Unterstützung bekam, aber ihr schließlich - nach zehn Jahren Kampf - für die Unterbringung in einem Heim ein Zuschuss in Aussicht gestellt wurde, gab Rita Feinkohl klein bei. "Ich musste wieder arbeiten, wir waren fast pleite", erinnert sie sich.
Endlich fand sie aber eine Einrichtung mit liebevoller, kompetenter Betreuung, die sich bereit erklärte, ihren Onkel aufzunehmen. "Rudi dachte, er ginge dort zur Schule und wunderte sich nur über das hohe Alter der Mitschüler", erinnert sich Rita Feinkohl amüsiert. Wann immer es möglich war, holte sie ihren Onkel weiterhin zu sich nach Hause.
Lange währte das Glück jedoch nicht: Im Jahr 2014 starb Rudi im Alter von 77 Jahren an Krebs. "Die Zeit danach war wie ein Entzug für mich", erinnert sich Rita Feinkohl. "Ich hatte kein eigenes Leben mehr." Es brauchte seine Zeit, bis sich die Unternehmerin erholt hatte und das Erlebte aufarbeiten konnte.
Heute sei sie "unfassbar dankbar" über die gemeinsame Zeit mit Rudi und das Wissen, dass sie ihm noch 15 Jahre lang ein schönes Leben ermöglichen konnte. "Ick dank Dir och schön", waren seine Worte und so heißt auch das Buch, das Rita Feinkohl im Self Publishing Verlag veröffentlicht hat.
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