Liedertafel
Ältester MGV im Landkreis wird nach 170 Jahren aufgelöst

- Eines der jüngsten Bilder der Liedertafel Estetal - mit deutlich reduzierter Sängeranzahl
- Foto: Ralf Dirks
- hochgeladen von Bianca Marquardt
Männergesangvereine (MGV) haben eine lange Tradition. Im 19. Jahrhundert gab es einen regelrechten Boom neuer Chöre, die sich zusammenschlossen, um Liedgut und die Geselligkeit zu pflegen. Viele der Chöre tragen den Beinamen "Liedertafel" - laut Lexikon ist der Name ursprünglich zurückzuführen auf eine Tafelrunde nach Vorbild von König Artus. Und Autor Hermann Kuhlo beschrieb die Geschichte der Zelterschen Liedertafel als solche von gleichgesinnten Freunden, „die, verschieden in Beruf und Stellung, einig waren in idealer Gesinnung, besonders in begeisterter Liebe zum Gesang“. Doch im Zeitalter von Streamingdiensten hat das alte Liedgut ausgedient, die Chöre klagen vielfach über Mitgliederschwund und Überalterung. Das gilt auch für den ältesten Männergesangverein im Landkreis Harburg, die Liedertafel Estetal, die nun nach 170 Jahren vor dem Aus steht.
Der Ostern 1855 gegründete Gesangverein hieß zunächst "Liedertafel zu Estetal". Als um 1900 auch Damen aufgenommen wurden, lautete der neue Name "Der gemischte Chor Hollenstedt". Um 1929 wurde es wieder ein reiner "Männerchor Estetal Hollenstedt". Lange Zeit galt 1929 auch als Gründungsjahr der Liedertafel Estetal, die 1979 den 50. Geburtstag des MGV feierte.
Ein Problem, das Gründungsdatum genau festzulegen, war, dass bei einem Brand im Vereinslokal Bostelmann's Gasthaus (heute Standort des Ankerherz-Verlags) im Jahr 1911 nicht nur das Gebäude, sondern auch viele Unterlagen und Erinnerungsstücke der Liedertafel den Flammen zum Opfer fielen.
Auf Hinweise des damaligen Schriftführers Heinrich Albers (†), dem Vater des späteren Hollenstedter Samtgemeinde-Bürgermeisters Heiner Albers – es habe schon vor 1929 einen Gesangverein gegeben -, beauftragte das heutige Ehrenmitglied Heinrich Thomas (von 1987 bis 1998 Vorsitzender der Liedertafel) vier Vereinsmitglieder mit der Geschichtsrecherche. So kam man 1988/89 zu Erkenntnissen, die eine Vereinsgründung im April 1855 belegen. Somit war der Verein plötzlich um 74 Jahre älter - und die Hollenstedter Sänger konnten im März 1989 die begehrte „Zelter-Plakette“ von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Empfang nehmen. Eine Ehrung ausschließlich für Vereine, die 100 Jahre alt und älter sind, eine kontinuierliche Übungstätigkeit und Beteiligung am kulturellen Leben nachweisen konnten.
Ein Beleg für die kontinuierliche Aktivität fand sich u.a. in einem Protokollbuch aus Anlass eines Sängerfestes 1913 beim MGV Treue von 1911 in Neukloster. "Nach 1950 ist es uns nicht mehr schwergefallen, Aktivität nachzuweisen", berichten vier der Liedertafel-Vorstandsmitglieder im WOCHENBLATT-Gespräch. Die Sänger absolvierten bis zu 150 Auftritte im Jahr - Konzerte, Freundschaftssingen oder Geburtstagsständchen, eben überall dort, wo sie angefordert wurden.
In guter Erinnerung geblieben sind den Sängern auch diverse weitere Konzertreisen, u.a. nach Prag und Wien. 1989 reiste die Liedertafel - kurz vor der Wiedervereinigung - nach Prag und Thüringen. "Und als die Konzerte stattfanden, war die Einheit da", berichten Vorsitzender Heinrich Benecke, Schriftführer Werner Schruhl, Ehrenmitglied Heinrich Thomas und zweiter Vorsitzender Jürgen Maack. "Somit hat nicht David Hasselhoff die Mauer musikalisch niedergerissen, sondern die Liedertafel Estetal", ist das Quartett überzeugt. Ein weiterer Höhepunkt war 1999 der Auftritt mit vier Chören - zwei Frauen- und zwei Männerchören aus Hollenstedt und Klecken - bei Papst Johannes Paul II. in Rom. Nicht zu vergessen die regelmäßigen Auftritte bei Bezirkschorfesten oder den Erntedankgottesdiensten im Hamburger Michel.
Gehörten der Liedertafel Estetal zu ihren besten Zeiten 40 und mehr Mitglieder an, sind es aktuell nur noch 13 mit einem Altersdurchschnitt von 79 Jahren. Die im April stattfindende Feier zum 170-jährigen Bestehen der Liedertafel Estetal soll daher den Schlusspunkt und den letzten Auftritt des Chores bilden.
Um die Geselligkeit weiter zu pflegen, wollen sich die Sänger dennoch einmal im Monat zum Singen und einmal im Jahr im Sommer zum Grillen treffen.



Redakteur:Bianca Marquardt aus Tostedt |
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