Moralisches Mahnschreiben an die CDU
Politik als Drama: Stader Kreis-SPD spielt Empörungstheater

Die Stader Kreis-SPD hat ein politisches Schauspiel inszeniert. Der Offene Brief an die CDU klingt aber eher nach einer Lokalposse | Foto: KI-generiert
  • Die Stader Kreis-SPD hat ein politisches Schauspiel inszeniert. Der Offene Brief an die CDU klingt aber eher nach einer Lokalposse
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Auf der bundespolitischen Bühne kracht es derzeit gewaltig. Im Theaterstück „Die Empörten“ wechseln die Hauptdarsteller fast täglich: Mal ist die eine Partei der Schurke, mal die andere. Das Publikum, sprich die Wählerschaft, schaut dem Spektakel zunehmend fassungslos zu. Und weil in Berlin schon so schön mit moralischen Keulen geschwungen wird, will die Stader SPD offenbar nicht hintanstehen und bringt ein eigenes Schauspiel auf die kommunale Bühne. Titel: „Der große Entrüstungsbrief“.

1. Akt: Der große Aufschrei

Die Genossen schickten einen Offenen Brief an die CDU-Kreisvorsitzende Melanie Reinecke. Der Einstieg des von den SPD-Unterbezirksvorsitzenden Corinna Lange und Kai Koeser unterzeichneten Schreibens ist bereits ganz großes Drama: "Mit großer Irritation und Sorge blicken wir auf die Geschehnisse der letzten Tage."

Koeser und Lange entrüsten sich über die vom CDU-Parteichef Friedrich Merz angestrebte Asyl-Wende. Der Vorwurf der beiden führenden Genossen im Landkreis: Der Kanzlerkandidat der Union habe bewusst in Kauf genommen, im Bundestag gemeinsam mit der AfD abzustimmen und damit auf die Unterstützung derjenigen zu setzen, "die unsere Demokratie von innen heraus zerstören wollen".

Nun könnte man meinen, dass dieses Thema auf Bundesebene längst durchdiskutiert wurde. Aber nein, Koeser und Lange holen es auf die Kreisebene, weil man ja nicht nur Zuschauer im großen Empörungstheater sein will – man möchte selbst eine Hauptrolle spielen und schwadroniert von einer "unverzeihlichen Tat" der "Merz-CDU".

2. Akt: Nebulöse Vorwürfe

Um den inszenierten Aufschrei noch ein wenig zu dramatisieren, begeben sich die Genossen in die Opferrolle: "Gleichzeitig sind wir erschrocken über Vorwürfe und Rhetorik aus Euren Reihen – insbesondere in den sozialen Medien." Doch um welche "Vorwürfe lokaler Funktionsträger" der CDU gegenüber der SPD geht es konkret? Welche Anfeindungen gab es bei Facebook und Co.? Dazu schweigen sich die beiden aus. Statt konkrete Zitate zu nennen, bleibt der Brief nebulös, gibt es die Andeutung eines dunklen, unheilvollen Treibens in der CDU.

3. Akt: Der politische Treueeid

Lange und Koeser nehmen zwar Reineckes Internet-Post zur Kenntnis, in dem die CDU-Kreisvorsitzende betont, dass es auf keiner Ebene einer Zusammenarbeit mit der AfD geben werde. Doch frei nach Goethe ("Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube"), erklären sie: Das Statement von Reinecke komme zu spät – "und ohne eine klare Distanzierung der örtlichen CDU bleibt es eine bloße Floskel". Geradezu pathetisch ist von einer "schweren Hypothek für die Zukunft" die Rede, sollte sich die Kreis-CDU nicht von ihrer Bundespartei und ihrem Parteichef distanzieren.

Man könnte meinen, Melanie Reinecke müsse jetzt ein Gelöbnis auf die Verfassung ablegen, um noch als Demokratin anerkannt zu werden. Dabei hat sich die CDU-Kreischefin doch klar positioniert: keine Zusammenarbeit mit der AfD. Aber das reicht der SPD nicht.

4. Akt: Das zerstörte Vertrauen

Dass die AfD in den kommunalen Gremien des Landkreises ohnehin weitgehend isoliert ist, dass CDU und SPD im Kreistag und in den kommunalen Räten durchaus pragmatisch zusammenarbeiten – all das wird in dem Brief ignoriert. Wenn Lange und Koeser der Kreis-CDU vorwerfen, Vertrauen zu zerstören, "das essenziell wäre für eine konstruktive Zusammenarbeit zum Wohl unserer Region und der hier lebenden Menschen", dann sollten sich beide an die eigene Nase fassen und mal darüber nachdenken: Sind sie es nicht, die Vertrauen zerstören, indem sie solche Briefe verfassen?

5. Akt: Das Schweigen

Zugegeben: Reinecke gilt nicht gerade als die leidenschaftlichste Kommunikatorin. Der CDU-Kreisverband glänzt nicht durch auffällige Präsenz. Und oft würde man sich wünschen, dass die Kreisvorsitzende zu Themen in der Region deutlicher Stellung bezieht. Doch in diesem Fall ist ihr Schweigen Gold wert. Denn was soll sie auch tun? Würde sie auf den Brief antworten, wäre es aus SPD-Sicht gewiss das falsche Statement. Würde sie sich entschuldigen, käme die nächste Forderung. Wenn Reinecke nicht in den lautstarken Schlagabtausch einsteigt, besteht die Chance, dass der Theaterdonner der Genossen schnell verhallt.

Finale: Die Tür steht offen

Immerhin endet das Drama mit einem versöhnlichen Unterton: „Unsere Tür für Gespräche bleibt offen“, schreiben Lange und Koeser. Schließlich will man weiter "Politik zum Wohle der Menschen in unserer Region gestalten". Man fragt sich zu Recht: warum dann überhaupt dieser Brief? Es soll genügend Kreis- und Lokalpolitiker in der SPD geben, die sich über das Schreiben gehörig ärgern. Sie brauchen keine künstliche Empörung und kein politisches Theater. Schließlich wird doch immer betont, dass es im Kreistag und in den Räten um Sachthemen und nicht um Ideologie geht.

Jörg Dammann

Das ist der Brief im vollen Wortlaut:

Liebe Melanie, liebe Mitglieder der CDU im Landkreis Stade,

mit großer Irritation und Sorge blicken wir auf die Geschehnisse der letzten Tage. Wir teilen Euer Entsetzen und Eure Empörung über Drohungen gegen Amtsträger:innen und Mitarbeiter:innen der CDU und verurteilen diese ausdrücklich. Gewalt in jedweder Form kann und darf niemals Teil der politischen Debatte sein. Gleichzeitig sind wir erschrocken über Vorwürfe und Rhetorik aus Euren Reihen uns gegenüber – insbesondere in den Sozialen Medien.

Liebe Melanie, in einem Post auf Instagram in der vergangenen Woche hast Du Konrad Adenauer zitiert, erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nach dem Grauen der Nazidiktatur: „Initiativen, die nur gemacht werden, damit etwas gemacht wird, richten Schaden an. Initiativen dürfen nur ergriffen werden, wenn Situationen sich ergeben, die Hoffnung auf Erfolg haben.“ Wir finden die Wahl des Zitats bemerkenswert. Denn der Antrag der Merz-CDU am Mittwoch vergangener Woche zeigt genau das Gegenteil dessen, was Adenauer forderte: eine Initiative ohne jede politische Wirksamkeit, ohne Aussicht auf echte Umsetzung, aber mit maximaler Symbolkraft – leider in die falsche Richtung. Dieser Entschließungsantrag war von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil er nicht darauf ausgerichtet war, reale Lösungen herbeizuführen, sondern lediglich ein Zeichen setzen sollte. Damit betreibt Friedrich Merz genau die Politik, die Du selbst völlig zu Recht kritisierst: Symbolpolitik ohne Wirkung.

Besonders bedenklich ist, dass der Antrag der Merz-CDU nur mit Stimmen der AfD eine Mehrheit finden konnte. Du sprichst von einer demokratischen Abstimmung – aber was sagt es über den Inhalt und Geist eines Antrages aus, wenn dieser ohne die Unterstützung von Demokratiefeinden gar nicht durchsetzbar gewesen wäre? Die CDU-Bundestagsfraktion hat sich nicht mit den demokratischen Parteien im Vorfeld abgestimmt – entgegen einer vorherigen Forderung von Parteichef Merz – sondern in Kauf genommen, dass ihr Antrag nur mit Hilfe derjenigen verabschiedet werden konnte, die unsere Demokratie von innen heraus zerstören wollen. Diese Verantwortung könnt Ihr nicht einfach von Euch weisen.

Noch schwerwiegender ist jedoch, dass die Merz-CDU Vorschläge gemacht hat, die in weiten Teilen rechts- und verfassungswidrig sind. Ihr fordert wissentlich Maßnahmen, die vor Gerichten keinen Bestand haben werden, und suggerieret der Bevölkerung dennoch, es gäbe einfache Lösungen. Damit trägt die Merz-CDU nicht zur Problemlösung bei, sondern nur zur weiteren Frustration der Menschen – ein gefundenes Fressen für die Feinde unserer Demokratie.

Von diesem Kurs ist Eure Bundestagsfraktion auch am Freitag nicht abgewichen. Statt einen Konsens mit den demokratischen Fraktionen der Mitte zu suchen, ist die CDU-Bundestagsfraktion erneut in eine gemeinsame Abstimmung mit der AfD gegangen. Diese ist am Widerstand in den eigenen Reihen gescheitert.

Unverzeihliche Taten müssen kritisiert werden. Und ja, es gibt eine besorgniserregende Verrohung der politischen Debatte. Gewalt – egal ob physisch, verbal oder schriftlich – ist nicht akzeptabel. Drohungen gegen Amtsträger verurteilen wir ohne Einschränkung. Aber das ändert nichts daran, dass die CDU eine politische Verantwortung für das trägt, was hier geschehen ist. Eure Bundestagsfraktion hat eine Tür aufgestoßen, die niemals hätte geöffnet werden dürfen.

Liebe Melanie, du hast in Deinem Post betont, dass es „KEINE Zusammenarbeit mit der AfD geben wird! Auf keiner Ebene.“ Dies kommt leider zu spät – und ohne eine klare Distanzierung der örtlichen CDU bleibt sie eine bloße Floskel. Es bleibt der bittere Beigeschmack, dass die CDU vielleicht, aber auch nur vielleicht, nicht aktiv mit der AfD zusammenarbeiten will, aber mindestens bereit ist, ihre Stimmen zur Durchsetzung eigener Anträge in Kauf zu nehmen. Es bleiben die Vorwürfe lokaler Funktionsträger:innen uns gegenüber. Es bleibt die aggressive Rhetorik einiger weniger. Es bleibt das bleierne Schweigen der vielen anderen. Es bleibt der Hohn in den Sozialen Medien über die Sorge vieler Menschen über die Stabilität unserer Demokratie. Das alles zerstört Vertrauen. Vertrauen, das essenziell wäre für eine konstruktive Zusammenarbeit zum Wohl unserer Region und der hier lebenden Menschen in herausfordernden Zeiten.

Liebe Melanie, liebe Freundinnen und Freunde der CDU Landkreis Stade, ohne eine klare Distanzierung der örtlichen CDU bleibt Deine Erklärung, liebe Melanie, eine schwere Hypothek für die Zukunft. Die demokratischen Parteien müssen sich darauf verlassen können, dass die Merz-CDU sich nicht schleichend in eine Richtung bewegt, in der sie aus machttaktischen Gründen Mehrheiten mit Demokratiefeinden sucht. Bisher haben wir hier vor Ort anders miteinander gearbeitet, haben einen anderen Umgang miteinander gepflegt – auch bei inhaltlichen Differenzen. Das Mindeste, was wir erwartet hätten, wäre eine deutliche Abgrenzung der lokalen CDU von diesem Vorgehen. Dass diese ausbleibt, hinterlässt große Zweifel.

Es ist Aufgabe der demokratischen Parteien, Politik zum Wohle der Menschen in unserer Region zu gestalten. Das wollen wir auch künftig gemeinsam mit Euch tun. Unsere Tür für Gespräche bleibt offen. Wir wünschen uns, dass Ihr durch diese auf uns zukommt. Dafür braucht es jetzt ein Signal von Euch, damit unser Verhältnis zueinander nicht nachhaltig beschädigt bleibt.

Mit besorgten Grüßen

Corinna Lange (MdL), Unterbezirksvorsitzende

Kai Koeser, Unterbezirksvorsitzender

Andre Borowsky, Geschäftsführer