Sorry Kürbis …
Gedanken zum Reformationstag von Superintendent Dirk Jäger
Der Reformationstag wird von evangelischen Christen in Deutschland und Österreich am 31. Oktober im Gedenken an die Reformation der Kirche durch Martin Luther gefeiert. Wie wichtig ist dieser Tag, 505 Jahre nachdem Martin Luther seine 95 Thesen zu Ablass und Buße an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg geschlagen hat? Dazu macht sich Dirk Jäger, Superintendent des Kirchenkreises Hittfeld, folgende Gedanken:
"Morgens um sieben – Brötchen holen, Kaffee kochen, Zeitung aus dem Briefkasten, Radio einschalten. Ich überlege, was heute anliegt. Menschen, mit denen ich verabredet bin, Entscheidungen, Telefonate, Briefe, E-Mails, die heute rausmüssen.
So geordnet und stets motiviert funktioniert das nicht immer. Es gibt Tage, da möchte ich mir lieber noch mal die Decke über den Kopf ziehen: 'Welt, bleib mir fern mit all den schrecklichen Nachrichten über Krieg und Inflation, Wirrköpfe an der Macht und weiteres depressionsförderndes Unheil!'
Was tun gegen den herbstlichen Blues? Ich könnte mich ablenken und am Montagabend zur Halloween-Party bei Bekannten gehen. Könnte, will ich aber nicht. Auf in unserem Kulturkreis sinnentleerte Ersatzrituale stehe ich nicht so und ein ehrliches Bier unter Freunden geht auch ohne megalustiges Gruselkostüm mit Kürbislaterne. Dem zu erwartenden Aufschrei, ein lustfeindlicher Protestant wolle Kindern ihren Spaß verwehren, kann ich entschlossen entgegentreten: Stimmt beides nicht, aber sorry – ich bin schon seit einigen Jahren erwachsen …
Am Montag ist Reformationstag. Party mach ich am Samstag, aber 'meinen' Reformationstag gönn ich mir. Als Zeit zum Nachdenken, zur Besinnung auf das, was (mich) trägt, wie es denn gehen soll mit dem komplizierten Leben im Hier und Jetzt. Von dringend nötigen Reformen hört man zurzeit viel, aber wohin soll die Reise gehen? Selbst langjährig erfahrene Besserwisser kommen inzwischen ins Grübeln.
Martin Luther hat vor 500 Jahren Klartext gesprochen. Und nicht nur erkannt, was falsch lief, sondern auch mutig verändert. Mit der Analyse von Missständen sind wir heute auch fix dabei, auf heimischen Sofas und Ministersesseln weiß man genau, was nicht in Ordnung ist im Staate. Beim Umsetzen wird es schwierig: die EU, die Globalisierung, der Föderalismus, der Sachzwang – irgendwas hindert ja immer. Mindestens eines scheint allen klar zu sein: Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsdefizit.
Zugegeben: Luther hatte es einfacher damals, seine Welt war überschaubarer. Aber trotzdem ist er für mich in diesem Jahr hochaktuell. Reformation ist kein 'man müsste mal', sondern ein 'wir machen jetzt mal was anders'.
Nun aber die entscheidende Frage: Wie sieht eigentlich ein christlicher Lebensentwurf aus? Einer, der zur Gegenwart passt, unseren Unsicherheiten etwas entgegensetzen kann. So, dass mein Dasein noch einmal ganz anders beleuchtet und belichtet wird. Soll ich Waffen für die Ukraine befürworten oder meinem Pazifismus aus Jugendzeiten behaftet bleiben? Soll ich chinesische Expansion in den Hamburger Hafen begrüßen oder gefährlich finden? Soll ich dies oder das oder jenes tun oder lassen? Oder in innerer Einkehr verharren und dabei nur auf den ersten Blick nichts falsch machen?
Mit starren moralischen Regelwerken kann ich nicht viel anfangen, dazu sind – so jedenfalls meine zwar zu langsam, aber doch wachsende Lebenserfahrung – die meisten Herausforderungen heutigen Lebens viel zu komplex und mehrdeutig. Aber die Haltung, die dem begegnen kann, interessiert mich. Eine, zu der ganz bestimmte Werte, freundlicher Umgang, unverstelltes Interesse, Besonnenheit, Verantwortlichkeit, Respekt, Vernunft, Tatkraft und vor allem der Bezug auf das Gegenüber Gottes gehören.
Am Montag werde ich am Frühstückstisch sitzen und die Fragen der Welt nicht gelöst haben. Meine eigenen bestimmt auch nur halb. Aber das ist ja das Schöne am Prinzip 'Reformation': Versuch und Irrtum dürfen dazugehören. Ich versuche es weiter – wenn es nicht gut wird, dann halt anders." (os/nw).
Redakteur:Oliver Sander aus Buchholz | |
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