WOCHENBLATT-Gespräch zum Ukraine-Nationalfeiertag
Schlaflose Nächte in Kiew: Ukrainer berichtet über aktuelle Lage
Der kommende Samstag ist für die Ukraine ein ganz besonderer Tag: Am 24. August jährt sich zum 33. Mal der ukrainische Unabhängigkeitstag. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärt sich der osteuropäische Staat im Jahre 1991 für unabhängig. Der Unabhängigkeitstag ist gleichzeitig ukrainischer Nationalfeiertag – in seiner Bedeutung vergleichbar mit dem Tag der Deutschen Einheit. Doch seit zweieinhalb Jahren führt Russland einen erbitterten Krieg gegen die Ukraine. Der Geschäftsmann Grischa Kaflowsky, der in Kiew lebt und im Landkreis Stade als Organisator von Hilfstransporten bekannt geworden ist, erzählt im WOCHENBLATT-Gespräch, wie schwierig die Situation in seiner Heimat derzeit ist.
Verstärkte Raketenangriffe auf Kiew
Seit Tagen hat Russland seine Raketenangriffe auf Kiew verstärkt. „Das sind schlaflose Nächte für uns alle“, sagt Grischa Kaflowsky, der mit seiner Frau in einem Randbezirk der ukrainischen Hauptstadt lebt. „Es gibt jede Nacht Luftalarm. Die Lage ist wirklich schlimm.“ Der ehemalige Oberstleutnant der Sowjetarmee, der seit den 1990er Jahren für westliche Industrieunternehmen arbeitet, ist stolz auf die Luftabwehr seiner Armee. „Die meisten Geschosse werden abgefangen. Das klappt hervorragend“, sagt Kaflowsky. Doch herunterfallende Trümmerteile seien eine Gefahr – und eine hundertprozentige Sicherheit gebe es ohnehin nicht. Das Munitionsarsenal der Russen scheine unerschöpflich.
Enkelin kommt zu Besuch
Derzeit beherbergt Kaflowsky auch seine Enkelin, die inzwischen in Berlin studiert, bei sich. Die junge Frau möchte in den Semesterferien in der Heimat sein, ihre Verwandten und Freunde treffen. „Ich habe schon an eine Evakuierung gedacht, weil die Situation immer gefährlicher wird“, sagt Kaflowsky, der mit Frau und Enkelkindern zwischenzeitlich in Kehdingen Zuflucht gefunden hatte. Doch die Familie wolle derzeit in der Ukraine bleiben. Sein Sohn kämpft an der Front, seine Tochter hilft in einem Spital. „Es gibt in der gesamten Ukraine keine sicheren Orte mehr“, hatte kürzlich auch der ARD-Korrespondent in Kiew, Vassili Golod, gesagt.
Täglich gibt es Stromausfälle
In Folge der russischen Angriffe bricht die Energieversorgung immer wieder zusammen. „Wir haben jeden Tag Stromausfälle“, berichtet Kaflowsky. Teilweise werde der Strom für bis zu 20 Stunden am Tag abgestellt, um das Netz wenigstens für wenige Stunden stabil halten zu können. Bei Temperaturen von 35 Grad und mehr, wie sie in den vergangenen Tagen in Kiew herrschten, ist das eine große Belastung vor allem für ältere Menschen. Kaflowsky sorgt sich bereits vor dem nächsten Winter. Er hat für sein Haus einen großen Notstromgenerator, doch derlei Geräte seien in der Ukraine seit langer Zeit kaum zu bekommen. Deshalb sei die humanitäre Hilfe aus dem Westen so unglaublich wichtig, sagt Kaflowsky.
In Gedanken bei Frontsoldaten
Normalerweise würden die Ukrainer ihren Unabhängigkeitstag mit Volksfesten und Militärparaden feiern. Doch in Zeiten des Krieges ist das nicht im gewohnten Umfang möglich. Kaflowsky ist in Gedanken bei den Soldaten an der Front – und bei jenen, die derzeit auf russischem Gebiet in der Region Kursk kämpfen. Er ist stolz auf die Erfolge seiner Armee. Die von der Ukraine besetzten Gebiete in Russland und die gefangengenommenen russischen Soldaten seien wichtige Druckmittel, um Russland zur Freilassung ukrainischer Soldaten zu bewegen. „Unsere Landsleute müssen nach Hause kommen“, sagt Kaflowsky.
Gespannt blickt er auf die politische Bedeutung des diesjährigen Unabhängigkeitstages. Indiens Premierminister Narendra Modi wird zu seinem ersten Staatsbesuch in der Ukraine erwartet. "Als Freund und Partner hoffen wir auf eine baldige Rückkehr von Frieden und Stabilität in der Region", hatte Modi vor seiner Abreise gesagt. „Das ist ein ganz wichtiges Signal“, sagt Kaflowsky. Zwar gilt Indien als wichtiger Partner Russlands, doch gleichzeitig bemüht sich das südasiatische Land auch um Sicherheitspartnerschaften mit dem Westen als Bollwerk gegen den Rivalen China.
Landrat Seefried: In Solidarität nicht nachlassen
Landkreis. „Wir werden in der Solidarität mit den Opfern dieses Krieges nicht nachlassen“, sagt Landrat Kai Seefried in einem Video, das der Landkreis Stade anlässlich des ukrainischen Unabhängigkeitstages auf seinen Social-Media-Kanälen veröffentlicht. „In Gedanken bin ich gerade heute bei den Menschen in der Ukraine, die ihr Land verteidigen, um ihre Sicherheit kämpfen und für ihre Demokratie eintreten“, sagt Seefried.
Er erinnert an den in den Sommerferien abgewickelten Hilfstransport für die Ukraine: 25 ehrenamtliche Einsatzkräfte von Feuerwehren und Hilfsorganisationen hatten fünf Einsatzfahrzeuge und mehrere Tonnen Hilfsgüter im Wert von insgesamt rund 80.000 Euro als Spenden an die polnisch-ukrainische Grenze gebracht. Der Landrat würdigt diesen „Einsatz für den Frieden“. Seefried betont: „Nur durch diese großartige Unterstützung ist es uns immer wieder möglich, Hilfe direkt vor Ort zu leisten.“ Die Solidarität im Landkreis Stade sei ungebrochen. „Gerade der ukrainische Nationalfeiertag sollte uns vor Augen führen, dass die Menschen in der Ukraine für unsere Demokratie und für unsere Freiheit in Europa eintreten“, sagt Seefried. „Deshalb verdienen sie auch unsere Unterstützung.“
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