Zwei Jahre Ukraine-Krieg
Doppelte Flucht vor russischen Bomben
Wenn sich an diesem Samstag der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zum zweiten Mal jährt, werden bei Olesia Vlasova wieder jede Menge Erinnerungen hochkommen. Die heute 37-Jährige floh kurz nach Kriegsbeginn mit ihrem zweiten Mann Roman und den damals 17-jährigen Zwillingstöchtern Margarita und Veronika aus der ostukrainischen Stadt Sewerodonezk. Per Bus ging es in den Westen, in Buchholz fand die Familie im April 2022 eine neue Heimat. Die Geschichte von Olesia Vlasova ist eine Geschichte von zerstörter Existenz, Angst um die Liebsten im Heimatland, Problemen mit den deutschen Behörden, aber auch der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, der Dankbarkeit für die Unterstützung der Menschen vor Ort und dem Optimismus im Hier und Jetzt. "Wir leben noch, das ist erstmal das Wichtigste", sagt die Ukrainerin. Klingt banal, ist aber angesichts der massiven russischen Angriffe alles andere als selbstverständlich.
Erste Flucht im Jahr 2014
Das Leben der Familie Vlasova änderte sich bereits im Jahr 2014 grundlegend: Im Zuge des Kriegs im Donbas, rückblickend der Beginn der Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine, wurde auch Olesia Vlasovas Geburtsstadt Donezk bombardiert. "Damals dachte ich, dass der Konflikt bald gelöst sein würde", erinnert sich die Ukrainerin. Es kam anders: Die Oblasten (Verwaltungsbezirke) Donezk und Luhansk wurden dauerhaft russisch besetzt, viele Ukrainer mussten flüchten. So auch Olesia Vlasova, ihr damaliger Mann und die Zwillingstöchter. Nach mehreren Ortswechseln kamen sie im Jahr 2017 in die Stadt Sewerodonezk, einer 100.000-Einwohner-Stadt zwischen Donezk und Charkiw. Dort baute Olesia zwei Jahre später eine Pyjama-Produktion auf. "Ich hatte endlich das Gefühl, wieder ein normales Leben zu leben"; berichtet Vlasova.
Ein Leben im Luftschutzbunker
Die scheinbare Normalität währte nur drei Jahre: Direkt nach dem Kriegsbeginn wurde Sewerodonezk massiv von der russischen Armee bombardiert. Die Menschen flüchteten sich in die Luftschutzbunker. "Wir waren 50 Personen und schliefen abwechselnd auf dem Tisch, teilten den kargen Proviant", erinnert sich Olesia. Schnell war klar, dass das Leben in der Stadt nicht mehr sicher ist. Die Kirchen vor Ort schlossen sich zusammen und organisierten die Evakuierung vieler Menschen. Zusammen mit Tochter Veronika, die aus ihrem Studienort Charkow zur Familie stieß, kam die Familie im April 2022 in Buchholz an.
Neues Leben ohne Sprachkenntnisse
Da lebte Tochter Margarita seit ein paar Wochen bei einer deutschen Gastfamilie. Deutsch sprach die Familie nicht. "Angefangen haben wir mit 'Danke schön' und 'Entschuldigung'", erinnert sich Tochter Veronika. Heute, nur zwei Jahre später, ist das Gespräch auf Deutsch überhaupt kein Problem. "Die Familie ist total wissbegierig", lobt Eike Seidel. Der ehrenamtliche Helfer steht den Vlasovas mit Rat und Tat zur Seite, hat ihnen u.a. im internationalen Sprachcafé in Buchholz die deutsche Sprache mit beigebracht.
Schwiegersohn ist Minenräumer
Untergekommen sind Olesia, ihr zweiter Ehemann Roman Vasiliev und Veronika in einer privaten Unterkunft. Die Gastfamilie lebt im Erdgeschoss, die Ukrainer im ersten Stock. Die Chemie passt. "Wir sprechen, lachen und weinen zusammen", erklärt Olesia. Anlass für traurige Momente gibt es genug. Da ist zum einen die ungewisse Lage von Tochter Margarita: Die 19-Jährige ist in die Ukraine zurückgekehrt und hat dort ihren Lebensgefährten Sascha geheiratet. Margarita ist schwanger - im Mai kommt Olesias Enkelkind auf die Welt - und lebt allein in der Stadt Poltava. Sascha ist mittendrin im Krieg: Er arbeitet im Auftrag der ukrainischen Regierung an der Front als Minenräumer. Im vergangenen Jahr wurde er bei der Explosion einer Mine schwer verletzt. Die Kommunikation mit der Tochter läuft über WhatsApp, die Verbindung ist meistens gut.
Das ist anders bei der Mutter von Olesia Vlasova. Diese ist, zermürbt vom Hin und Her der Behördengänge in Deutschland, ins russisch besetzte Donezk zurückgekehrt. Olesia Vlasova ist in steter Sorge um das Wohlergehen ihrer Mutter.
Alle Zeugnisse sind verbrannt
Auch in Deutschland steht die Familie vor großen Herausforderungen. Das Business, eine Pyjama-Produktion, das Olesia in der Ukraine aufgebaut hatte, lässt sich in Buchholz nicht reaktivieren. Ein weiteres Problem: Als das Haus in Sewerodonezk zerstört wurde, verbrannten auch alle Zeugnisse. "Ich kann nicht nachweisen, dass ich Abitur gemacht habe", sagt Olesia. Es besteht auch keine Chance, sich die Dokumente neu ausstellen zu lassen. Probleme hat die Familie auch mit dem Antrag fürs Kindergeld. "Die Kindergeldkasse tut sich etwas schwer mit den Umständen", beschreibt es Helfer Seidel. Dass ein junger Mensch als erste Ausbildung ein Online-Fernstudium in der Ukraine absolviert, wie es Veronika macht - sie studiert Textiltechnik und Modedesign -, ist im deutschen Sozialsystem offenbar nicht vorgesehen und führt zu Tatenlosigkeit.
Das Leben selbst gestalten
Trotz aller Unwägbarkeiten und der schlimmen Kriegserfahrungen in der Vergangenheit ist der Optimismus der Familie Vlasova ungebrochen. Dabei geht der Blick in die nähere Zukunft. "Ich würde gern eine Ausbildung machen, zum Beispiel als Mediendesignerin. Ich möchte mein Leben selbst gestalten", sagt Olesia Vlasova. Pläne für die fernere Zukunft macht sie nicht mehr: "Wir wissen ja nicht, wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauert. Wir haben schon 2014 gedacht, dass der Krieg schnell vorbei ist. Aber es gab immer mehr Raketen!"
Redakteur:Oliver Sander aus Buchholz | |
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