In den Landkreis Stade Geflüchteter zieht Bilanz
Die Ukraine kämpft für die Freiheit Europas
"Es hing förmlich in der Luft, dass etwas passieren würde." So beschreibt der in den Landkreis Stade geflüchtete Ukrainer Grischa Kaflowskij den Vorabend des Tages, der alles verändert hat. Vor einem Jahr überfiel Russland seinen westlichen Nachbarn und verwandelte friedliche Städte, Dörfer und Landschaften in ein Kriegsinferno von fast unvorstellbaren Ausmaßen. Viele Orte in Grischas Heimatland liegen in Trümmern, ganze Regionen sind verwüstet nach den unzähligen Raketenangriffen, mit denen die Armee von Kreml-Machthaber Wladimir Putin die Ukrainer terrorisiert.
Zu Recht sprach Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kurz nach Kriegsbeginn von einer "Zeitenwende". "Der Glaube an ein friedliches Zusammenleben der Nationen auf dem europäischen Kontinent wurde von den Stiefeln der russischen Angreifer und ihrer Söldnertruppen in den Dreck getreten", meint Grischa. Nach dem Ende des Kalten Krieges hätten sich viele Länder Europas - allen voran Deutschland - der naiven Hoffnung hingegeben, dass eine dauerhafte Epoche des Friedens und Wohlstands angebrochen sei. Der Ukrainer, der früher Offizier der Sowjetarmee war, kritisiert, dass die meisten westlichen Politiker die Anzeichen für eine zunehmend feindliche Haltung Russlands bewusst ignoriert haben.
Grischa ist wie viele seiner Landsleute auch nach einem Jahr Krieg fest davon überzeugt: Eine Verhandlungslösung wird es nicht geben. "Putin will gar nicht ernsthaft verhandeln. Dieser Diktator versteht nur die Sprache der Gewalt." Der Ukrainer hofft darauf, dass die Solidarität mit der Ukraine ungebrochen bleibt und das vom Krieg so schwer gezeichnete Land weiter Hilfe erhält - sowohl in humanitärer als auch in militärischer Hinsicht.
"Wir kämpfen in der Ukraine für die Freiheit Europas", sagt Grischa, der sich seit einer Woche wieder einmal im Rahmen einer Hilfsmission in seinem Heimatland aufhält. Dieser Kampf habe seinen Preis: "Ihr Deutsche zahlt ihn mit Eurem Geld, wir Ukrainer zahlen mit unserem Blut."
Als wäre es gestern
An den 24. Februar 2022 erinnert sich Grischa, als wäre es gestern gewesen: Nachts um vier Uhr fielen an dem Donnerstag die ersten Bomben. Dem 65-Jährigen und seiner Frau Halyna war sofort klar: "Jetzt hat der russische Angriff begonnen." Grischa ist einer der rund 3.500 Kriegsvertriebenen aus der Ukraine, die derzeit im Landkreis Stade leben - die meisten von ihnen mit der Hoffnung, nach einem möglichst baldigen Ende des Krieges wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können.
Doch bei allen schönen Zukunftsvisionen geht es für Grischa an diesem bitteren Jahrestag erst einmal um die aktuellen Realitäten. In dieser Woche hält er sich - wie so oft - in der Ukraine auf, um Hilfsgüter direkt vor Ort abzuliefern. Zwei große Hilfskonvois hat der Ukrainer bereits mit Unterstützung des Landkreises auf den Weg gebracht - zusätzlich zu seinen privaten Initiativen. Dass er aktiv helfen kann, und nicht - wie jetzt gerade viele seiner Landsleute - um Hilfe bitten muss, bezeichnet Grischa als großes Glück. Er ist aufgrund seines Berufes als Handelsvertreter gut nach Deutschland und in die Schweiz vernetzt und spricht fließend Deutsch. Seinen beruflichen Kontakten ist es auch zu verdanken, dass er mit seiner Familie in Drochtersen unterkommen konnte.
Die Flucht aus Kiew
Mit Familie meint Grischa aktuell seine Frau und die drei Enkel. Denn Tochter und Schwiegertochter sind in der Ukraine geblieben - so wie sein Sohn. An jenem Donnerstagmorgen vor einem Jahr stand sofort der Entschluss fest: Oma und Opa bringen die drei Enkelkinder in Sicherheit. "Zunächst hieß es für uns nur, raus aus Kiew", berichtet der Geschäftsmann, dem ein ansehnliches Haus in einem Vorort der ukrainischen Hauptstadt gehört. Die langen Autoschlangen auf den Fluchtrouten nach Westen, das Chaos an den Tankstellen, die Verzweiflung der Menschen: Die Wirren der ersten Kriegstage bleiben in fester Erinnerung. Fünf Tage waren er und seine Frau mit den Enkeln im Alter von elf bis 17 Jahren unterwegs, um schließlich wohlbehalten in Kehdingen anzukommen.
Das große Haus in der Heimat hütet derweil die Schwiegertochter Lesja, die dageblieben ist, um ihre kranke Großmutter zu versorgen. Auch seine Tochter Maryana konnte Grischa nicht dazu bewegen, mit nach Deutschland zu kommen. Die 38-Jährige hat sich freiwillig zum Dienst in einem Hospital gemeldet, um Verwundete zu versorgen. "Ich bin in Sorge um sie. Maryana wohnt im siebten Stock eines Hochhauses in einem Stadtteil von Kiew. Solche Gebäude wurden schon so oft von Raketen getroffen." Aber es sei nun mal ihre Entscheidung.
Der Sohn kämpft in Bachmut
Fast noch größer ist die Sorge um den Sohn Sascha. Der 43-Jährige steht als Soldat im wahrsten Sinne des Wortes an vorderster Front: Seit Dezember ist der Unteroffizier in Bachmut im Einsatz, dem derzeit am heftigsten umkämpften Ort in der Ukraine. "Mein Junge stand gleich am ersten Kriegstag in Uniform vor mir und hat mir gesagt, dass er sich als Freiwilliger melden wird", berichtet Grischa, der gar nicht wusste, dass sein Sohn in den Monaten zuvor bereits für einen Einsatz als Soldat trainiert hatte. Der IT-Fachmann war zunächst zur Verteidigung von Kiew eingesetzt.
"Jetzt muss er die Hölle von Bachmut durchleben", sagt der besorgte Vater. Er hofft, dass der Sohn bald an einen anderen Frontabschnitt verlegt wird. "Wir dürfen nicht miteinander telefonieren, weil die Russen sonst womöglich das Handy orten könnten." Als einziges Lebenszeichen seines Sohnes erhält Grischa ab und zu per Messenger ein Plus-Zeichen. Kürzlich kam noch ein beklemmendes Video an: Das zeigt einen mit Granatsplittern durchlöcherten weißen Pkw. Den Gebrauchtwagen hatte Grischa erst im Dezember als Spende in Buxtehude abgeholt und ihn in die Ukraine gebracht. An der Front nutzten ihn die Soldaten, um schnell die Position wechseln zu können. Als die Granate einschlug, duckten sie sich hinter dem Auto weg. Der Wagen rettetet ihnen das Leben.
Die Krim zurückerobern
Trotz der Schrecken dieses Krieges ist Grischa davon überzeugt, dass Russland nur militärisch in die Knie gezwungen werden kann. "Putin und seine Kriegsverbrecher-Clique sind doch gar nicht gesprächsbereit. Wer sich ihnen anbiedert, zeigt in deren Augen nur Schwäche." Die russische Armee sei zu bezwingen, weil sie undiszipliniert sei und taktische Fehler begehe. Diese Einschätzung gibt Grischa nicht aus dem Bauch heraus ab: Er selbst diente noch in der damaligen Sowjetunion in der Roten Armee - zuletzt im Rang eines Oberstleutnants. Auch die Krim müsse zurückerobert werden, was aus seiner Sicht militärisch kein Problem sei.
Erst wenn die russischen Invasoren über die Grenze zurückgedrängt seien, könne Frieden herrschen, sagt Grischa. Diesem Tag würden alle ukrainischen Flüchtlinge entgegenfiebern, da alle so schnell wie möglich zurück in ihre Heimat wollen. "Dort warten große Aufgaben auf uns. Wir müssen unser Land wiederaufbauen."
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