Alfred Hermsdörfer aus Hittfeld
In acht Tagen über die Alpen gewandert
Warum geht jemand in acht Tagen zu Fuß über die Alpen? Bei Alfred Hermsdörfer (68) lag die Antwort in einer Vorabend-Talkshow. Das WOCHENBLATT veröffentlicht den Erfahrungsbericht des Mannes aus Hittfeld, der viele Jahre als Journalist bei großen deutschen Verlagen arbeitete und zudem als Berater in der Medienbranche tätig war.
"Dieser Satz hätte nicht fallen dürfen. „Im Sommer werde ich mit meinen Söhnen zu Fuß die Alpen überqueren“, antwortete die als Gast geladene blonde Moderatorin einer Vorabend-Talkshow auf die Frage nach ihren Urlaubsplänen. Oha. Da schwang kein Zweifel bei ihren Worten mit. Sie sprach von ihrem Vorhaben wie von einem Friseurbesuch. Aber sie meinte es ernst, kein Random Joke, das spürte man. Sie hatte es schon mal gemacht. Nun also wieder. Über die Alpen. Mal eben so.
Ich weiß nicht warum, jedenfalls streikte augenblicklich mein präfrontaler Cortex. Blackout. Total. Aber im selben Moment sickerte ein verwegener Gedanke in mein Bewusstsein: Großartig, das kannst du auch. Mitte Juni wäre ideal, kam mir spontan in den Sinn. Die EM hat Europa fest im Griff, die Alpen ergo touristenfrei. Die Vorstellung einer alpinen Exkursion begann mich süchtig zu machen. Ich in den Alpen. Ich. Die 70 vor Augen. Mäßig sportlich. Einer, für den schon der Harz eine derbe Challenge war. Und der Brocken Europas höchster Berg. Sus.
Unvorsichtigerweise weihte ich meine Familie umgehend in meinen Plan ein. Warum? Ich weiß es nicht. Was passierte, hatte ich jedenfalls nicht erwartet. Meine Familie fand meinen Plan cool. Das ist mir bis heute unerklärlich. Meine Frau listete sofort alle Wanderutensilien auf, die ich noch brauchen würde. Und das waren nicht wenige. Ich besaß lediglich Wanderschuhe von Aldi im Look dekorativer Ziegelsteine. Mir fehlten aber Trekkingstöcke, Outdoor-Klamotten für drunter und drüber. Trinkflasche, klar. Riegel, die Power geben. Die Liste wurde lang und länger. Und mein Rucksack schon in Gedanken beängstigend schwer. Doch ein optionaler Gepäcktransfer, wie von meiner Frau vorgeschlagen, kam nicht in Frage. Wenn wandern, dann auf die harte Tour.
Während meine Familie emsig beschäftigt war, mich bergfähig auszustaffieren, suchte ich nach einer passenden Tour. Also eine, die bei Bergmenschen in die Kategorie „machbar“ fällt. Meine Wahl fiel schließlich auf einen Sieben-Tage-Trip vom Tegernsee nach Sterzing in Oberitalien. Dauer: 8 Tage, Gesamtstrecke: ca. 103 km (es sollten mehr werden…), Höhenunterschied rauf
: 3930 m, Höhenunterschied runter: 3550 m, Schwierigkeit: . Nicht gelesen hatte ich: „Sie sollten trittsicher und abschnittsweise schwindelfrei sein. Sie gehen täglich 5 bis 7 Stunden und kleinere Gipfelanstiege sind möglich. Wir setzen eine gute Kondition voraus, damit Sie die Höhenwege genießen können.“
Mein Restverstand gebot mir zumindest bei einem versierten Veranstalter zu buchen. Ohne Guide, aber immer mit einem Bett for save. Hütten ohne Hilfe im Sommer zu buchen, ist schwerer, wie eine bezahlbare Miet-Wohnung in Berlin-Mitte zu finden. Fest aber stand, ich wandere allein. Das war ich meinem Ego aus unerfindlich Gründen schuldig. Reiner Trotz. Der Preis: Einzelzimmer mit Aufschlag. 989 Euro inkl. Frühstück, Reiseversicherung und üppigem Kartensortiment samt sorgsam ausgetüftelter Wegbeschreibungen.
Anfang Juni kam das 643 Gramm schwere Päckchen mit den Reiseunterlagen. Jede Menge Papier mit jeder Menge Tipps, dazu eine Liste der Hotels. Alles in einem mausgrauen Filztäschchen zusammen mit einem Gummiarmband als sichtbares Zeichen: Ich bin ein Alpenüberquerer. Ach ja, und ein Werbeflyer von Tiroler Steinöl war auch drin. Alles rein in meinen neuen Deuter Rucksack. Plus: Blasenpflaster, Mini-Taschenlampe , Power-Bank, Feuchttücher, Zeckenset …. Satte 8,2 Kilo kamen so zusammen. Und die sollten von mir über die Alpen gewuchtet werden. Ein Wahnsinn.
Long Story short: Am 14. Juni stand ich pünktlich mit schwerem Gepäck um 5.00 Uhr auf dem Bahnsteig in Hamburg-Harburg. Gebucht hatte ich das Abenteuer vor dem Abenteuer, also mit der Bahn nach München, dann weiter nach Gmund am Tegernsee. Ankunft nicht pünktlich, aber immerhin Ziel erreicht. Wie hieß es in der Broschüre des Veranstalters: Schon am heutigen Anreisetag beginnt Ihr Abenteuer Alpenüberquerung. Stimmt, wenn auch sicher anders gemeint. Vom ersten Schritt in Gmund wurde nun die App von Komoot für Outdoor-Abenteurer (so nennt die sich wirklich) auf dem Handy mein ständiger Begleiter. Im Sekundenabstand wies mir die Stimme in meiner Hosentasche den Weg. Nach 300 Meter hatte ich mich trotzdem verlaufen.
Die Runde um den Tegernsee bei der ersten Etappe war eigentlich entspannt. Alles flach, alles easy. 14 Kilometer sagte mein Routenplan, ich wanderte 19 Kilometer, weil die Sonne so schön schien und ich keine Lust auf die empfohlene Ruderfähre hatte. Ich umrundete auch noch die Südspitze des Sees und hatte dafür dann in Bad Wiessee eine Blase unter dem linken Fuß, die so groß war wie eine Zwei-Euro-Münze.
Tags drauf ging es schon richtig bergauf. 820 Höhenmeter, felsig, mit hüfthohen Stufen, satte 17 Kilometer. In der Wegschreibung hieß es euphemistisch: „Ein guter Wandersteig führt durch Mischwald in die erste Almregion.“ Den Schildern mit dem Ü (das Zeichen für den richtigen Weg) folgend, erreichte auch ich den Grenzkamm Bayern-Tirol mit typischer Latschen-Vegetation und ersten rot-weiß-roten Duftmarken auf Granitblöcken gepinselt. Gut, sanft war hier nichts, aber die Panoramen von der Voralpenregion des Tegernsees bis zu Karwendel und Zillertaler Alpen echt betörend schön. Eindrücke, die mich in Achenkirch nach sieben Stunden Wandern sogar meine heftigen Knieschmerzen vergessen ließen. Jedenfalls fast.
Tag drei lockte laut Tourbeschreibung der schönste Wanderweg Tirols mit Ziel Fügen. Insgesamt 14 Kilometer, viele davon am Westufer des Achensees, die „Wanderer verzaubern“ sollen. Weil mein Knie weiter übel schmerzte, kürzte ich den Zauber etwas ab und ließ mich mit per Schiff und der Zillertal Bahn meinem Ziel ein Stück näherbringen. Richtig schön war‘s trotzdem.
Tag vier begann erstaunlicherweise ohne Schmerzen im Knie und einer Gondel-Fahrt auf das 1850 m hoch gelegene Spieljoch. Wow. Oben angelangt, ist der Rundblick auf die Bergwelt des Zillertals, Karwendel und Rofangebirge bis zu den Kitzbüheler Alpen einfach mega. Großes Naturkino für die Sinne. Einatmen, Augen schließen, Idylle auf Festplatte im Hirn speichern. Und weiter. Was folgte waren mehr als fünf Stunden aufmerksames Gehen auf einem meist schmalen Steig zwischen Latschen, Almrosen, Zirbenbäumen und Granitsteinen, vielen Granitsteinen und noch mehr leicht bräunlich gefärbten Fußballfeldgroßen Schneefeldern. Offenbar Spuren von Wanderern vor mir. Also, allein war ich hier nicht. Gut zu wissen.
Das Ziel heute: Hochfügen. Ein Ort, der scheinbar nur aus Hotels besteht. Und nun im Juni ohne Skitouristen einem Geisterdorf ähnlich. Immerhin, schön ruhig ist es. Im Hotel wasche ich meine verschwitzte Garderobe und wundere mich, dass sie nicht trocken wird… „Ist halt klamm hier oben“, erklärt mir eine Frau im Hotel. Aha. Trocken wird meine Wäsche dadurch nicht.
Für Tag fünf ist die kürzeste Tour vorgesehen. Nach Mayrhofen, 840 Höhenmeter Anstieg. Aber eben nur elf Kilometer, fast schon ein Spaziergang durch vom Gletscher geschliffene Felsen zum Sidanjoch. Rauf geht’s bis auf 2280 Meter. Überall kann sich das Auge nicht satt sehen, was die Alpen hier an Reizen zu bieten hat. Nach etwas mehr als vier Stunden Bergzauber dann eine nette Geste vom Veranstalter: Von Melchboden nimmt mich ein Linienbus gratis und knieschonend über die Zillertaler Höhenstraße talwärts mit.
Ziel am Tag sechs ist das Örtchen Pfitsch, dafür müssen 13 Kilometer gewandert werden. Dabei geht es über den Alpenhauptkamm, hier wird also meine Alpenüberquerung sozusagen vollendet. Morgens um 9.00 Uhr bringt mich ein Bus erstmal zum Schlegeis Stausee (1.800m Seehöhe), dem Tourstart. Der folgende Anstieg ist wie angekündigt moderat, der Weg hübsch gesäumt von rauschenden Bächen und imposanten Wasserfällen. Gleich hinter dem Grenzstein zu Italien wartet das Pfitscherjochhaus auf 2275 Metern und ein süffiges Weißbier, natürlich ohne Alkohol. Talwärts führt der Weg durch noch intakten Mischwald ins Pfitschtal zur vorletzten Unterkunft, einem soliden Gästehaus mit W-Lan.
Für die finale Etappe zum Zielort Sterzing geht es noch einmal 20 Kilometer durch schattige Waldpassagen und über frisch gemähte Wiesen direkt in das pittoreske Ortszentrum von Sterzing. Die letzten vier Kilometer schenke ich mir, obwohl meine Komoot-Stimme mich ständig auf die eigentlich für mich vorgesehene Strecke navigieren möchte.
Am frühen Nachmittag ist es geschafft. Weitestgehend wohlbehalten bin ich über die Alpen gewandert. Ja, ich bin mächtig stolz. Anstrengend war es, aber unsagbar schön. Und keinen Schritt habe ich bereut. Ist das die Antwort? Vielleicht.
Jetzt also bin auch ich Finisher der Alpenüberquerung Tegernsee-Sterzing und mit ein paar ungewollten Umwegen sogar 115 Kilometer gewandert. So viel schaffe ich sonst in einem halben Jahr. Mein Dank gebührt auch zwei netten Paaren samt Gordon Setter „Harry“, an deren Seite ich immer mal wieder mitwandern durfte. Das größte Abenteuer allerdings habe ich mir für das Ende der Tour am Tag acht aufgehoben. Die Rückreise nach Hamburg. Mit der Bahn …"
Redakteur:Oliver Sander aus Buchholz | |
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